Der Eden Effekt
bestellt. Die zweite Flasche Prosecco war beinahe leer. Mark verteilte den Rest in beide Gläser.
Als ihm der Gestank der Abwässer in die Nase stieg, verzog er das Gesicht.
»Die Gezeiten ändern sich, und der Wind steht ungünstig«, sagte Michelle. »Bei Ebbe wird das Wasser aus Venedig herausgezogen.«
»Billiger, als zu pumpen, vermute ich.« Mark sah, dass jenseits der Lagune die Lichter angingen. Im Westen wurde Santa Maria della Salute an der Mündung des Canal Grande angestrahlt.
Während des Essens hatte Michelle größtenteils geschwiegen. Jetzt lächelte sie. »Ebenso wie der Rest der Welt ertrinkt Venedig in seinem eigenen Abfall.«
»In der Tat ein fröhlicher Gedanke.«
»Es war auch kein fröhlicher Tag.«
»Noch eine Flasche Prosecco? Wenn man genug trinkt, vergisst man den Kummer.«
Als Michelle tief einatmete, richtete sich Marks Blick unwillkürlich auf ihren Busen. Es ist schon seltsam. Sobald die Angst nachlässt, sorgt das limbische System dafür, dass wir uns wieder für ganz andere Dinge interessieren.
Michelle betrachtete ihn nachdenklich. »Ich hätte nicht vermutet, dass Sie sich in einer Krisensituation so gut halten. Ich dachte, Sie würden in Panik geraten und durchdrehen.«
»So war es auch. Als wir im Hotel ankamen, musste ich schnell nachsehen, ob ich mir nicht vor Angst in die Hosen gemacht habe.«
Michelles Blick ging in die Ferne. In ihm mischten sich Wut mit Kummer und Schuldgefühlen. Mark war sich sicher, dass sie an den Anschlag vom Morgen dachte.
»Wenn Sie geblieben wären, Michelle, wären Sie jetzt genauso tot wie die anderen.«
»Ich habe nur meinen Job gemacht. Was haben Sie vor, wenn Sie jemals wieder nach Hause kommen?«
»Ich werde aufhören, mich wie ein Idiot zu benehmen. Ich gebe Denise das Haus, die Autos und lasse mich scheiden. So einen Mann wie mich hat sie wirklich nicht verdient. Ich werde versuchen, mit Will und Jake Frieden zu schließen. Und was ich dann mache, weiß ich nicht. Vielleicht schaue ich zu, wie die Welt untergeht.«
Michelle strich mit ihren schlanken Fingern über das Glas. »Der Meeresspiegel steigt. Venedig wird zu den ersten Orten gehören, die von der Landkarte verschwinden.«
»Ich freue mich, dass ich die Stadt kennengelernt habe. Letztendlich wird die Erde bestehen bleiben und neu beginnen. Das hat sie in den vergangenen Milliarden Jahren immer wieder getan.«
Michelle zeigte auf die Lichter, die sich nun auf dem Wasser, den Booten in der Lagune und in den Fenstern der umliegenden Häusern spiegelten. »Dann ist das alles hier also dem Untergang geweiht?«
»Die Geschichte, die Gebäude und die Leidenschaft der Menschen, die sie gebaut haben. Ja. All das wird zur Erde zurückkehren.«
»Und was ist dann der Sinn von Kunst und Schönheit?«
»Ich nehme an, uns zu unterhalten. Wir sind eine egoistische Spezies.«
»Das ist keine großartige Grabinschrift für die Menschheit.«
Mark trank einen Schluck Prosecco. »Das Überleben der Menschen war immer abhängig von einem Gleichgewicht zwischen der egoistischen und der selbstlosen Seite unseres Charakters. Wenn wir unserem Nachbarn nicht mit einer Keule auf den Kopf geschlagen haben, haben wir ihm die Hand gereicht, um ihn aus dem Dreck zu ziehen. Wenn wir nicht so gewalttätig und egoistisch gewesen wären, wie wir es immer noch sind, wären unsere Vorfahren schon vor zwei Millionen Jahren ausgestorben. Und wenn wir nicht in der Lage gewesen wären, Bündnisse zu gegenseitigem Nutzen zu schließen, unsere Ressourcen zu teilen und uns in die Lage anderer zu versetzen, wären wir ebenfalls ausgestorben. Wir Menschen sind sonderbare Kreaturen.«
»Vorausgesetzt, Sie haben recht und uns steht tatsächlich nicht mehr viel Zukunft bevor ...«
»Ich habe recht.«
»Wozu ist das Leben dann da?«
Mark ließ seinen Blick über das Wasser gleiten und genoss die Schönheit Venedigs. »Vielleicht ist das Jetzt alles, worauf wir uns verlassen können.« Er betrachtete Michelle. Das sanfte Licht des Restaurants ließ ihr Züge weicher erscheinen. Die Frau, die mit halsbrecherischer Geschwindigkeit auf der Ducati durch die Dolomiten gerast war, um ihn in Sicherheit zu bringen, hatte sich in eine atemberaubende Schönheit verwandelt, die von ihren eigenen Dämonen gejagt wurde.
Sie wechselten einen wissenden Blick, in den sich Resignation mischte. »Vielleicht ist das Jetzt alles, was wir jemals hatten«, sagte sie. »Der Rest – die Träume, Hoffnungen und Sehnsüchte – ist
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