Der Effekt - Roman
schau’s dir lieber selbst an.«
Pete brummte ungehalten vor sich hin, stemmte sich aus seinem Sitz und eilte an Deck. Er ging nach vorn zum Bug, schirmte seine Augen ab und sah sofort, was sie meinte. Ziemlich weit nördlich von ihnen war der Himmel überzogen von einem der absonderlichsten Sturmerscheinungen, die er je gesehen hatte. Es sah aus, als würde dieses Phänomen glänzen und irgendwie in der Luft hängen. Anscheinend war es ziemlich weit entfernt, denn es schien von unterhalb des Horizonts auszugehen und langsam nach oben in die Stratosphäre zu steigen. Wie er so dastand und es beobachtete, fühlte er sich klein, unbedeutend und sehr verletzlich.
»Das Funkgerät funktioniert nicht«, rief Fifi von unten.
»Es funktioniert sehr wohl …«, wollte er sagen, hielt aber inne. Sie hatten die ganze Zeit über den Funkverkehr abgehört, um rechtzeitig mitzubekommen, wenn Schiffe der amerikanischen oder mexikanischen Küstenwache oder Marineboote sich näherten. Das Funkgerät hatte die ganze Zeit über Geräusche von Funkgesprächen übertragen. Erst jetzt, als Fifi ihn darauf aufmerksam machte, bemerkte er, dass das Gerät keinen Ton mehr von sich gab und zwar schon seit einer halben Stunde. Er warf einen letzten Blick auf die seltsame Wettererscheinung im Norden, zuckte mit den Schultern und ging unter Deck.
Mr. Lee machte sich an den Schaltern und Knöpfen des Funkgeräts zu schaffen. Zufällig bekam er einen kommerziellen Radiosender aus Acapulco herein, in dem ein Moderator auf Englisch und mit schwerem Akzent eine polizeiliche
Verlautbarung vortrug, mit der eine sofortige Ausgangssperre verordnet wurde. Sie sollte so lange gelten, bis die Verbindung mit den Regierungsinstitutionen in der Hauptstadt wiederhergestellt wäre.
»Oh, bloß das nicht …«, murmelte Pete vor sich hin, denn die Durchsage erinnerte ihn an einen anderen unglückseligen Tag. Damals war er nach einer wilden Nacht mit seinen noch relativ neuen Crewmitgliedern spätmorgens im Hafen von Santa Monica aufgewacht und hatte den ganzen Tag damit verbracht, herumzulungern, Irish Coffee zu trinken und seinen Rausch auszuschlafen. Es war der 11. September 2001 gewesen, und er hatte von diesem Tag, der die Welt verändern sollte, so gut wie überhaupt nichts mitbekommen. Erst als Lee am Nachmittag aus der Stadt zurückkam und ihm mitteilte, was er gehört hatte, wurde ihm klar, dass an der Ostküste etwas Schreckliches passiert war. Und jetzt, als er wieder unter Deck saß und ihm der Schweiß über den Körper rann, während er dem immer hysterischer redenden Radiomoderator zuhörte und gleichzeitig den Weg der vom Kurs abgekommenen fünf Schiffe im Norden auf dem Radar verfolgte, hatte Pete Holder das Gefühl, als würde die gleiche Katastrophe sich noch einmal abspielen.
»Ich weiß nicht, was da los ist«, sagte er. »Aber es gefällt mir überhaupt nicht. Und dann noch dieser irrwitzige Sturm. Mein Gefühl sagt mir, dass wir hier schleunigst verschwinden sollten. Mr. Lee, alles bereitmachen für Kurswechsel Richtung Süd-Süd-West, aber schnell! Behaltet die Pong Su im Auge. Wenn nichts Neues passiert, machen wir uns in fünfzehn Minuten vom Acker. Es ist besser, wir bringen ein bisschen Abstand zwischen uns und dieses … was immer das ist.«
Die Diamantina glitt durch eine leichte Dünung, die von einer aufkommenden frischen Brise verursacht wurde. Mr.
Lee hatte das Steuer übernommen, mit ausdruckslosem Gesicht, und wirkte angesichts des Weltuntergangs genauso phlegmatisch wie damals auf Bali, als er in den Lauf einer M16 geschaut hatte. Pete fragte sich, ob es überhaupt irgendetwas auf dieser Welt gab, über das er sich aufregen konnte.
Im Grund war es Pete nur recht, dass er so war, denn er hatte ja genügend Aufregung mit den Zwillingen.
»Heiliger Juden-Zombie, der du am Fensterkreuz baumelst«, sagte Fifi.
»Wie bitte?«, fragte Pete.
»Das ist Rednecksprache und bedeutet so viel wie Herrjemine«, erklärte Jules. »Aber lass uns mal dranbleiben, okay?«
Die drei Schmuggler hockten vor dem Samsung-Monitor, einem nagelneuen 23-Zoll-Flachbildschirm, den Pete in La Paz in einer tequilageschwängerten langen Nacht einem italienischen Jachtbesitzer abgeschwatzt hatte. Die Asien-Redaktion von CNN berichtete aus dem regionalen Hauptquartier des Senders in Hongkong, das Bild nahm ein Viertel des Bildschirms ein. Jules hatte sich über das Iridium-Telefon in den Internet-Livestream des Senders eingeklinkt. Wenn sie noch
Weitere Kostenlose Bücher