Der Effekt - Roman
mich gleich wieder erledigen, wenn wir uns treffen. Aber Sie haben meine Fragen nicht beantwortet. Was hatte er hier verloren? Was hatten die alle hier zu tun? Und was, zum Teufel, ist da draußen eigentlich los? Reynard sagte mir, ihr hättet alles unter Kontrolle.« Sie deutete mit dem Kopf Richtung Stadtzentrum. »Aber da ist überhaupt nichts unter Kontrolle. Die Stadt stirbt.«
Der Soldat sah kurz etwas verwirrt aus, dann schüttelte er den Kopf. »Reynard? Ach so, Sie meinen Lacan. Nein, wir haben nichts unter Kontrolle, Mademoiselle. Seit Wochen nicht. Die Hälfte der Bevölkerung von Paris ist aufs Land geflüchtet, aber da ist es noch schlimmer. Die Städte sind verlassen. Sie können sich denken, was das bedeutet. Manche haben Zelte mitgenommen und Proviant, der für ein paar Tage reicht. Die meisten sind dann geflohen, als die Intifada begann und die Résistance sich zum Gegenschlag formierte. Bauernhöfe und Dörfer haben sich verbarrikadiert und bekämpfen jeden, der sie um Hilfe oder Unterschlupf bittet. Eine düstere Zeit ist angebrochen. Überall stapeln sich die Leichen. Inzwischen dürfte die Zahl in die Millionen gehen. Jeden Tag sterben Tausende. Wir haben furchtbar viele Tote zu beklagen.«
Caitlin war ohnehin schon schwindelig und innerlich sehr labil, aber das, was Rolland ihr sagte, brachte sie noch mehr aus dem Gleichgewicht. Sie stellte sich vor, wie Heerscharen völlig unvorbereiteter Stadtmenschen durch die französische Provinz irrten und von gestohlenen Eiern und wilden Früchten lebten. In wenigen Tagen
würden sie alles kahlgefressen haben. Sie begann wieder zu zittern, es war das gleiche heftige Zittern, das sie nach der Vergewaltigung durch Al-Banna erfasst hatte.
»Ent-schuldigung«, stotterte sie.
Rolland griff unter seine blutbespritzte Jacke und holte ein silbernes Fläschchen hervor.
»Hier, trinken Sie das«, sagte er. »Das ist Cognac. Guter Cognac, nicht dieses Desinfektionszeug, das Sie sonst so kennen. Mein Mannschaftsarzt hat mir auch noch das hier gegeben.«
Er legte ein zerbeultes Päckchen mit Tabletten auf den Tisch.
»Das wir Sie beruhigen«, erklärte er. »Aber es macht Sie nicht benommen.«
Caitlin fragte sich kurz, ob sie die Tabletten in ihrer körperlichen Verfassung überhaupt vertrug. Aber dann spülte sie sie einfach mit zwei Schlucken aus Rollands Flasche hinunter. Der Alkohol brannte ein wenig und wärmte sie innerlich. Als sie ihm den Cognac zurückgab, donnerte ein Düsenflugzeug ganz in der Nähe vorbei, das Geräusch der Triebwerke stieg in wenigen Sekunden von einem leisen Jaulen zu einem ohrenbetäubenden Kreischen an. Kurz darauf hörte man das bekannte Geräusch von detonierenden Bomben wenige Kilometer entfernt.
»Also haben sich die Dinge nicht so positiv entwickelt, wie man mir erzählt hat?«
Captain Rolland zog heftig an seiner übelriechenden Zigarette.
»Ich fürchte nicht. Die Situation ist noch immer … verwirrend.«
»Verwirrt bin ich auch, wahrscheinlich noch viel mehr. Warum versuchen Sie nicht mal, mir alles zu erklären? Sie könnten mit Baumer anfangen. War er einer von Ihren Leuten? Bin ich deshalb zur Zielscheibe geworden?«
»Ein Doppelagent? Nein, ich fürchte nicht.«
Caitlins Kopf fühlte sich an, als sei er in mit Chloroform getränkte Tücher gewickelt. Sie hatte Schwierigkeiten sich zu konzentrieren und ihre Gedanken beieinanderzuhalten.
»Aber was hatte er dann hier im Fort zu suchen? Was, sagten Sie, hat Reynard oder wie Sie ihn nennen …«
»Lacan. Barnard Lacan. Er hat den zweithöchsten Rang in der Einsatztruppe.«
»Okay, also Lacan. Wollen Sie damit sagen, dass er uns an die Intifada verraten hat?«
Rolland machte eine resignierte Handbewegung, als wollte er eine Fliege verjagen.
»So einfach ist das nicht. Sie waren ja eine ganze Weile von unserem Radar verschwunden, Caitlin. Darf ich Sie mit Ihrem Vornamen ansprechen?«
»Andere haben sich in letzter Zeit mehr Freiheiten mir gegenüber herausgenommen. Sprechen Sie weiter.«
»Lacan hat für Baumers Netzwerk gearbeitet, das ist richtig. Aber nicht nur Lacan. Und nicht nur mit einer Dschihad-Zelle. Es ist kompliziert. Ich muss Ihnen erst einmal die Situation erklären. Bitte haben Sie etwas Geduld mit mir. Sie sind sicherlich mit der Geschichte des französischen Geheimdiensts DGSE vertraut?«
Sie lehnte sich zurück und zog die Decke zurecht, um es sich bequemer zu machen. Draußen wurde der Regen stärker, jetzt fiel er dicht genug, um die
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