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Der Effekt - Roman

Der Effekt - Roman

Titel: Der Effekt - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heyne
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den Augen. Sie hatte vor einer Bar geparkt, an der Ecke der Northeast 106 th und der Fourth Street, weit genug entfernt vom Bellevue Square, wo der Verkehr längst zum Erliegen gekommen war und auch die Mobilfunknetze zusammengebrochen waren. Niemanden schien es mehr an seinem Arbeitsplatz zu halten,
Tausende von Menschen waren auf die Straßen geströmt in der Hoffnung, möglichst bald bei ihren Kindern, ihren Partnern oder zu Hause sein zu können. Vielleicht lag es ja an dieser dämlichen Ausgangssperre. Alle wollten so schnell wie möglich nach Hause. Die Sonne wurde von Tausenden von Windschutzscheiben reflektiert, es sah aus, als würden unendlich viele grelle Blitzlichter aufleuchten. Hinzu kam ein Hupkonzert, und außerdem waren noch Tausende von Fußgängern unterwegs, die versuchten, sich zwischen den langsam fahrenden Autos hindurchzuschlängeln. Alle wollten unbedingt woanders sein. Es war wie am 11. September, nur eben nicht in New York, sondern hier.
    Barbara stieg wieder in ihren Honda ein, schnallte sich an, steckte den Schlüssel ins Zündschloss und suchte im Radio nach einer Stimme, die halbwegs vernünftig klang. Die großen, nationalen Sender waren alle ausgefallen und die Lokalradios offenbar von Spinnern und Irren übernommen worden.
    »Mommy, hast du mir was Süßes geholt?«, fragte Suzie. Barbara schloss die Augen. Sie hatte Suzie einen Schokoriegel oder was Ähnliches versprochen, wenn sie ruhig blieb, während ihre Mutter nach einer intakten Telefonzelle suchte. Und in der ganzen Hektik hatte sie das natürlich vergessen. Der scharfe Tonfall, in dem Suzie sie ermahnt hatte, kündigte einen Wutanfall an, und es war Barbara sowieso klar, dass sie nichts mehr dagegen tun konnte.
    »Tut mir leid, Liebling. Ich hab’s vergessen. Aber ich … äh … ich hab hier noch ein bisschen Kaugummi. Willst du den haben?«
    Sie holte ein zerschlissenes Päckchen Dubble Bubble aus der Münzablage.
    »Aber Mami, ich darf doch keinen Kaugummi. Das weißt du doch.«

    »Heute darfst du mal ausnahmsweise einen Kaugummi haben«, antwortete Barbara zorniger, als sie es beabsichtigt hatte. »Hier, nimm und sei ruhig.«
    Sie warf ihr das Päckchen zu und bereute es sofort. Bei ihr war Suzie immer etwas empfindlicher als bei ihrem Vater - wahrscheinlich weil sie meist heftiger reagierte. Jetzt bebten Suzies Lippen, und ihre Augen füllten sich mit Tränen. Barbara spürte, wie sich ein peinigender Schmerz in ihren Schläfen festsetzte.
    »… Schätzungen über Todesopfer oder vermisste Personen gehen in die Hunderte Millionen«, erklärte eine düstere Stimme im Radio. »In einer gemeinsamen Stellungnahme haben der Gouverneur und der Befehlshaber von Fort Lewis die Menschen aufgefordert, in den städtischen Gebieten die Straßen zu verlassen und sie für Polizei, Feuerwehr und Krankenwagen frei zu halten. Die Ausgangssperre wird sehr bald verschärft werden …«
    Barbara schaltete irritiert das Radio aus. Das war nicht gerade das, was Suzies Stimmung aufbessern konnte.
    »Ich will zu Daddy«, schluchzte das Mädchen und brach in Tränen aus. »Ich will, dass Daddy heimkommt. Er soll nicht aufgefressen werden.«
    »Alles wird gut, Liebling, alles wird gut.«
    Aber der Zusammenbruch war da, und innerhalb von wenigen Sekunden verwandelte sich ihre Tochter auf dem Rücksitz in ein heulendes Bündel des Elends.
    Wo, zum Teufel, steckst du, Kip?, dachte Barbara.
     
    »Verdammt, das Ding muss ja dreißig Kilometer hoch sein.«
    »Höher, Sir«, sagte der Luftwaffenoffizier. »Es scheint irgendwo da oben in der Mesosphäre umzuknicken.«
    Kipper nickte, sagte aber nichts. Besser, du hältst den Mund und alle halten dich für einen Dummkopf, als losreden und das Vorurteil bestätigen, hatte sein Opa immer gesagt. Der alte Kipper war eine Schatzgrube für schräge
Lebensweisheiten gewesen. Er hatte immer ein Zitatenlexikon auf dem Küchentisch gehabt, um im Zweifelsfall einen guten Spruch nachzuschlagen.
    Wer weiß, was er über dies alles hier gesagt hätte, dachte Kip, während das Militärflugzeug sich im Sinkflug Seattle näherte. Die C-130 war nicht für Rundflüge gemacht, aber durch die kleinen, schmutzigen Fenster hatte er einen guten Blick auf die beängstigenden Ausmaße der Energiewelle, die sich nach rechts und links und auch nach oben ins Unendliche zu erstrecken schien. Er war der einzige Passagier an Bord, nachdem die Stadt das Militär gebeten hatte, ihm diesen Service angedeihen zu lassen. Er war auf

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