Der Ego-Tunnel
René Descartes (1596–1650) begann jedoch die philosophische Interpretation der conscientia als höherstufigem Wissen über die eigenen geistigen Zustände zu dominieren. Jetzt hat sie zunehmend etwas mit Gewissheit zu tun. In einem wichtigen Sinn ist Bewusstsein das Wissen, dass man weiß, während man weiß.
Die zweite wichtige Grundeinsicht scheint im Gedanken der Integration zu liegen: Bewusstsein ist das, was verschiedene Bestandteile gleichzeitig zusammenbindet, so dass sie als Teile eines umfassenden Ganzen erscheinen. Wenn man diese Ganzheit hat, erscheint einem eine Welt. Wenn der Informationsfluss aus unseren Sinnesorganen vereinheitlicht ist, erleben wir die Welt – Bewusstheit ist »Zusammenschau«. Wenn die Sinne dagegen auseinanderfallen und schwinden, verliert man das Bewusstsein. Philosophen wie Immanuel Kant oder Franz Brentano haben Theorien über diese »Einheit des Bewusstseins« aufgestellt: Was genau ist es, das in jedem einzelnen Moment all die verschiedenen Teile unseres bewussten Erlebens zu einer einzigen Wirklichkeit – einer »realen Einheit« – zusammenfügt? Besondersinteressant ist heute, dass die erste wesentliche Einsicht – wissen, dass man etwas weiß; denken, dass man etwas denkt – überwiegend in der Philosophie des Geistes diskutiert wird, 2 wohingegen sich die Neurowissenschaft des Bewusstseins auf das Problem der Integration konzentriert, nämlich darauf, wie die verschiedenen wahrgenommenen Merkmale von Gegenständen zu einer Ganzheit verbunden werden. Dies nennt man das Problem der »Eigenschaftsbindung«, das sich jedoch auf vielen Ebenen erneut stellt. Wenn wir die Einheit des Bewusstseins verstehen wollen, müssen wir das zuletzt genannte Phänomen untersuchen – das Eine-Welt-Problem der dynamischen globalen Integration. Aber vielleicht werden wir im Verlauf dieser Untersuchung entdecken, wie die beiden wesentlichen Fragen – die Top-Down -Version, die in der Philosophie des Geistes diskutiert wird, und die Bottom-Up -Version, die von der Hirnforschung entwickelt wird – in Wirklichkeit nur zwei Seiten ein und derselben Medaille sind. 3
Wie wäre es wohl, das bewusste Erlebnis zu haben, dass man zur gleichen Zeit in mehreren Welten lebt, dass sich echte Parallelwirklichkeiten im eigenen Geist öffnen? Gäbe es dann auch parallele Beobachter? Das Eine-Welt-Problem ist so einfach, dass man es leicht übersehen kann: Damit eine Welt uns erscheinen kann, muss es zuerst einmal eine Welt sein. Für die meisten von uns scheint es offensichtlich, dass wir unser bewusstes Leben in einer einzigen Realität leben und dass die Welt, in der wir jeden Morgen aufwachen, dieselbe Welt ist, in der wir am Tag davor eingeschlafen sind. Unser Tunnel ist ein Tunnel. Es gibt keine Nebenstraßen, geheimen Seitengassen oder alternativen Pfade durch die Wirklichkeit. Nur Menschen, die schwere psychiatrische Störungen durchlebt haben, oder Personen, die mit höheren Dosen von Halluzinogenen experimentiert haben, können sich vielleicht ansatzweise vorstellen, was es bedeuten würde, zu ein und demselben Zeitpunkt in mehr als einem Bewusstseins-Tunnel zu leben. Die Einheit des Bewusstseins ist eine der größten Leistungen des Gehirns: Es ist die gar nicht so einfache oder selbstverständliche phänomenologische Tatsache, dass alle Inhalte unseres gegenwärtigen Erlebens nahtlos miteinander verbunden sind, dasssie ein zusammenhängendes Ganzes bilden – die Welt, in der wir unser Leben leben.
Das Problem der Integration von Bewusstseinsinhalten muss allerdings zuerst auf einer ganzen Reihe von subglobalen Ebenen gelöst werden. Stellen Sie sich vor, Sie wären nicht mehr in der Lage, die verschiedenen Eigenschaften eines gesehenen Gegenstands – seine Farbe, seine Oberflächentextur, die Kanten und so weiter – zu einem einzelnen Inhalt zu verbinden. Es gibt zum Beispiel eine Störung, die als »apperzeptive Agnosie« bekannt ist, bei der kein zusammenhängendes visuelles Modell auf der Ebene des Bewusstseins entsteht, obwohl alle niedrigstufigen visuellen Verarbeitungsvorgänge des Patienten vollkommen intakt sind. Die Betroffenen haben in der Regel ein vollständig intaktes Sehfeld, das bewusst wahrgenommen wird, aber können nicht erkennen, was es ist, das sie gerade anschauen. Sie sind beispielsweise nicht in der Lage, Formen voneinander zu unterscheiden oder einander zuzuordnen, indem sie sie im eigenen Geist aufeinander abbilden, und sie können auch keine Zeichnungen
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