Der Ego-Tunnel
hinzutreten. Bewusstsein findet in großem Maßstab statt und ist ein vereinheitlichtes Gesamtphänomen, das aus unzähligen physikalischen Mikroereignissen hervortritt. Solange ein hinreichend starkes Ausmaß an interner Korrelation und kausaler Kopplung es dieser Insel aus tanzenden Mikroereignissen erlaubt, aus der chaotischen Dynamik in unserem Gehirn aufzutauchen, leben wir in einer einzigen Wirklichkeit. Eine einzige und einheitliche Welt erscheint uns.
Dieses Hervortreten einer Wirklichkeit kann auch in » Offline- Zuständen« geschehen: Im Traum funktioniert die Verknüpfung der Inhalte jedoch nicht ganz so gut, und genau das erklärt auch, weshalb unsere Traumwirklichkeit häufig so bizarr ist, warum wir Schwierigkeiten haben, unsere Aufmerksamkeit zu bündeln, und warum einzelne Traumszenen so schnell aufeinanderfolgen. Trotzdem gibt es auch hier nach wie vor so etwas wie eine übergreifende Situation , wir sind immer noch gegenwärtig und in ihr anwesend, und aus diesem Grund dauert das phänomenale Erleben weiter an. Aber wenn wir allmählich in den Schlaf sinken und die Insel sich wieder im Meer auflöst, dann verschwindet auch unsere Welt. Die Menschheit weiß dies mindestens seit der griechischen Antike: Der Schlafist der kleine Bruder des Todes, denn auch Einschlafen bedeutet, die Welt loszulassen. 8
Eines der faszinierenden Merkmale der aktuellen Bewusstseinsforschung ist die Tatsache, dass alte philosophische Ideen plötzlich in den interessantesten Bereichen der neurowissenschaftlichen Forschungsfront sozusagen in neuem Gewand wieder auftauchen. Sowohl Aristoteles als auch Franz Brentano haben darauf hingewiesen, dass das bewusste Wahrnehmen auch darin bestehen muss, dass man sich der Tatsache gewahr ist, dass man gerade jetzt etwas bewusst wahrnimmt, in genau diesem Moment. In einem gewissen Sinne müssen wir das Wahrnehmen wahrnehmen, und zwar während es geschieht. Wenn dieser Gedanke richtig ist, dann muss der Gehirnzustand, der gerade jetzt Ihre bewusste Wahrnehmung des Buchs in Ihrer Hand erzeugt, zwei logische Teile besitzen: einen Teil, der ein inneres Porträt des Buchs erzeugt, und einen Teil, der ständig den Gesamtzustand selbst repräsentiert, ihn noch einmal darstellt. Ein Teil zeigt auf die Welt und ein Teil auf den Darstellungsvorgang an sich. Bewusste Zustände könnten genau die Zustände sein, die sich selbst noch einmal »metarepräsentieren«, während sie etwas anderes darstellen. Dieser klassische Gedanke ist nicht frei von logischen Problemen, aber vielleicht kann man die philosophische Grundidee innerhalb eines empirisch plausiblen Begriffrahmens bewahren und auf präzisere Weise weiterentwickeln.
Die Arbeiten des niederländischen Hirnforschers Victor Lamme in Amsterdam und die des französischen Neurowissenschaftlers Stanislas Dehaene am NeuroSpin Center auf dem CEA Campus von Saclay und im Pariser Klinikum Pitié-Salpêtrière verweisen jeweils auf die zentrale Bedeutung sogenannter »rekurrenter Verbindungen« als der funktionalen Basis des Bewusstseins. 9 Bei der bewussten visuellen Verarbeitung zum Beispiel wird Information auf einer hohen – also: späteren – Stufe ständig dynamisch zurück abgebildet auf Information, die jetzt gerade erst auf einer frühen Ebene entsteht. Trotzdem bezieht sich der gesamte rückgekoppelte Vorgang immer auf dasselbe Netzhautbild im Auge. Wie wir alle wissen, machen unsere Augen pro Sekunde etwa drei kleine Sprünge,sogenannte Sakkaden. Jedes Mal, wenn sie eine bestimmte Szene erfassen, entsteht ein innerer Kreislauf, ein Feedforward-Feedback-Zyklus, der sich auf das aktuelle Bild bezieht, und dieser Zyklus liefert uns das detaillierte bewusste Wahrnehmungsbild dieser Szene. Wir machen ständig bewusste Schnappschüsse der Welt mit Hilfe dieser Feedforward-Feedback-Zyklen. Sehr allgemein gesprochen, scheint das Prinzip dabei darin zu bestehen, dass die fast kontinuierlich ablaufenden Feedback-Schleifen von höheren zu niedrigeren Bereichen im Gehirn einen anhaltenden Zyklus erschaffen, einen kreisförmigen, in sich selbst eingebetteten Informationsfluss, bei dem das, was gerade vor ein paar Millisekunden passiert ist, ständig dynamisch auf das zurück abgebildet wird, was gerade jetzt hereinkommt. Ein innerer Kreislauf entsteht. Auf diese Weise erzeugt die unmittelbar zurückliegende Vergangenheit kontinuierlich einen Kontext für die Gegenwart – sie filtert das, was wir jetzt gerade bewusst erleben können. Man sieht, wie
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