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Der Ego-Tunnel

Der Ego-Tunnel

Titel: Der Ego-Tunnel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Metzinger
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große Menge räumlich weit verteilter feuernder Neuronen in unserem Kopf realisiert. Genau wie eine Regenwolke aus winzigen Wassertröpfchen besteht, die in der Luft schweben, setzt sich das neuronale Aktivierungsmuster, das die Grundlage der Gesamtheit unseres bewussten Erlebens bildet, aus Millionen von winzigen elektrischen Entladungen und chemischen Übergängen an den Synapsen zusammen. Genau genommen hat die Informationswolke des Bewusstseins keinen festen Ort im Gehirn, obwohl sie kohärent ist.
    Aber warum ist die Wolke kohärent? Was hält all die kleinen Tröpfchen – all die Mikroereignisse – zusammen? Wir wissen es noch nicht, aber es gibt Hinweise darauf, dass das einheitliche Ganze des Bewusstseins mit Hilfe der zeitlichen Feinstruktur in Erscheinung tritt, die die Aktivität des bewussten Gehirns kennzeichnet – das heißt durch den rhythmischen Tanz neuronaler Entladungen und synchroner Oszillationen. Aus diesem Grund ist die Grenze dieser Ganzheit eine funktionale Grenze, die den Rand der Insel des Bewusstseins in einem Ozean bildet, der aus Myriaden von weniger integrierten und weniger dicht miteinander gekoppelten neuronalen Mikroereignissen besteht. Alle Information innerhalb dieser Wolke aus feuernden Neuronen ist bewusste Information. Was immer sichinnerhalb der Grenzen dieser Wolke befindet (innerhalb des »dynamischen Kerns«), ist Teil unserer inneren Welt, und was immer sich außerhalb davon befindet, ist kein Teil unserer subjektiven Wirklichkeit. In diesem Sinne lässt sich das bewusste Erleben als eine ganz besondere globale Eigenschaft der neuronalen Gesamtdynamik in unserem Gehirn verstehen, als eine besondere Form der Informationsverarbeitung, die auf einem global integrierten Datenformat beruht.
    Wir besitzen sogar bereits die ersten mathematischen Werkzeuge, die uns erlauben, die kausale Komplexität innerhalb des dynamischen Bewusstseinskerns genauer zu beschreiben. Wenn man alle technischen Details beiseitelässt, dann zeigen diese Werkzeuge uns, wie ein Vorgang der Selbstorganisation in unseren Gehirnen eine optimale Balance zwischen Integration und Differenzierung ermöglicht, zwischen Einheit und innerem Nuancenreichtum, und auf diese Weise den wunderbaren Reichtum und die innere Vielfalt von Bewusstseinsinhalten zusammen mit dem Erleben der Einheit erzeugt.
    Was bedeutet all dies? Was wir für Bewusstsein wirklich brauchen, ist kein gleichförmiger Zustand globaler Synchronizität, ein Zustand, in dem einfach viele Nervenzellen gleichzeitig zusammen feuern. Diese Gleichförmigkeit finden wir in Zuständen der Unbewusstheit, wie zum Beispiel im Tiefschlaf oder während epileptischer Anfälle. In diesen Fällen löscht die Synchronizität alle innere Komplexität schlichtweg aus: Es ist, als würde das gleichzeitige Feuern all die Farben und Formen, die Gegenstände, aus denen unsere Welt besteht, regelrecht ausradieren. Was wir brauchen, ist eine Kohärenz im großen Maßstab, einen Vorgang, der weit entfernte Gehirnregionen überspannt und miteinander verbindet und gleichzeitig auf flexible Weise viele verschiedene Arten von Inhalten in eine bewusste Hierarchie einbettet: die Buchstaben in die Seite, die Seite in das Buch, die Hand, die das Buch hält, in unser körperliches Selbst, und das Selbst als etwas, das sich nicht nur in einem Sessel im Zimmer sieht, sondern das auch die Bedeutung der Worte versteht – ein »Selbst im Akt des Wissens«. Wir benötigen eine Einheit des Bewusstseins,die, von innen gesehen, so differenziert wie möglich ist. Auf der anderen Seite ist maximale Differenzierung für sich genommen auch nicht optimal, weil diese dazu führen würde, dass unsere Welt in unverbundene Stücke aus geistigen Inhalten zerfiele und wir das Bewusstsein verlieren würden. Der eigentliche Trick am Bewusstsein scheint darin zu bestehen, immer genau die richtige Abstimmung zwischen den Teilen und dem Ganzen zu erreichen – und in jedem einzelnen Moment unseres bewussten Lebens scheint ein weit verteiltes Netzwerk aus Nervenzellen im Gehirn genau das zu leisten, als Wolke aus einzelnen Neuronen, die im Raum verteilt sind und in sehr feinen, subtil organisierten Mustern aus gleichzeitiger Aktivität vor sich hin feuern, wobei vielleicht ein Muster immer in das nächste eingebettet wird. Genau wie bei den Wassertröpfchen, die unsere Regenwolke in der äußeren Wirklichkeit bilden, verlassen in jedem Moment manche Elemente den Gesamtverband, während andere zu ihm

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