Der Ego-Tunnel
solche objektive Beschreibung vollkommen frei von dem wäre, was Philosophen »indexikalische Ausdrücke« nennen. In ihr gäbe es keine Zeiger oder kleine rote Pfeile, die uns sagen würden: »Sie sind hier!« oder »Gerade jetzt!«. Im wirklichen Leben ist dies die Aufgabe des bewussten Gehirns: Es sagt dem es beherbergenden Organismus fortwährend, welcher Ort hier ist und welche Zeit jetzt ist. Dieses erlebte Jetzt ist das zweite große Problem für eine moderne Theorie des Bewusstseins. 11
Der biologische Bewusstseins-Tunnel ist ein Tunnel nicht einfach nur in dem Sinne, dass es sich um ein internes Realitätsmodell in unserem Gehirn handelt. Er ist auch ein Zeittunnel – oder, genauer gesagt, ein Tunnel der Gegenwärtigkeit. An dieser Stelle begegnen wir einer subtileren Form von Innerlichkeit, nämlich Innerlichkeit innerhalb der zeitlichen Dimension, so wie sie subjektiv erlebt wird.
Der empirische Teil der Geschichte wird sich mit dem Kurzzeitgedächtnis und dem Arbeitsgedächtnis auseinanderzusetzen haben, mit rekurrenten Schleifen in neuronalen Netzwerken und mit der Einbindung einzelner Ereignisse in größere zeitliche Gestalten (diewir häufig einfach den »psychologischen Moment« nennen). Der wirklich irritierende Aspekt des Jetzt-Problems ist begrifflicher Natur: Es lässt sich sehr schwer genau sagen, worin eigentlich das philosophische Rätsel besteht. Es ist fast schon zur Tradition geworden, dass Philosophen und auch Wissenschaftler an diesem Punkt eine Passage aus dem 14. Kapitel des 11. Buchs der Bekenntnisse des heiligen Augustinus zitieren. In dieser berühmten Passage bemerkt der Bischof von Hippo: »Was also ist die Zeit? Wenn mich niemand danach fragt, weiß ich es. Wenn ich es einem erklären will, der danach fragt, weiß ich es nicht.« Die Hauptschwierigkeit bei der Lösung des Jetzt-Problems liegt nicht in der Hirnforschung, sondern in der Frage, wie man es richtig formuliert. Lassen Sie es mich zumindest versuchen: Bewusstsein ist Innerlichkeit in der Zeit. Es macht die Welt für uns gegenwärtig, indem es einen neuen Raum in unserem Geist öffnet – den Raum der zeitlichen Internalität: Alles ist innerhalb des Jetzt . Was auch immer wir erleben, wir erleben es notwendigerweise als in diesem Moment geschehend.
Vielleicht sind Sie zunächst anderer Meinung: Stimmt es etwa nicht, dass sich mein bewusstes episodisches Gedächtnis, die Erinnerung an meinen letzten Spaziergang am Strand, auf etwas in der Vergangenheit bezieht? Und stimmt es etwa nicht, dass meine bewussten Gedanken und Pläne über den für das nächste Wochenende geplanten Ausflug in die Berge sich auf die Zukunft beziehen? Doch, das stimmt alles – aber sie sind immer eingebettet in ein bewusstes Modell des Selbst, das sich gerade jetzt an die Seesterne am Strand erinnert beziehungsweise genau in diesem Moment eine neue Route zum Gipfel plant.
Wenn wir Richard Gregory, dem großen alten Mann der britischen Psychologie folgen, dann besteht eine der Hauptfunktionen des bewussten Erlebens darin, »die gefährliche Gegenwart zu markieren«, als ob man eine rote Flagge setzt, die einen besonders gefährlichen Bereich der Wirklichkeit auszeichnet. 12 Eine der wesentlichen Funktionen des Bewusstseins ist es demnach, einem Organismus zu helfen, in Kontakt mit der unmittelbaren Gegenwart zu bleiben – mit all den Eigenschaften sowohl seiner selbst als auch seiner Umgebung,die sich plötzlich und unvorhersagbar verändern können. Diese Idee steht in Beziehung zu einem klassischen Begriff, den Bernard Baars vom Neurosciences Institute in San Diego eingeführt hat, der in der Bewusstseinsforschung für sein im Jahre 1988 erschienenes Buch A Cognitive Theory of Consciousness bekannt ist. In diesem Buch skizzierte er die sogenannte Theorie des globalen Arbeitsspeichers als ein Modell für Bewusstsein. Diese Metapher für Bewusstsein als Inhalt eines globalen Arbeitsspeichers im Geist hat sich als fruchtbar erwiesen und führt zu der Schlussfolgerung, dass nur die kritischen Aspekte der Wirklichkeit im Bewusstsein dargestellt werden. Bewusste Information ist dann genau die Information, die für jede einzelne unserer kognitiven Fähigkeiten gleichzeitig verfügbar gehalten werden muss. Eine bewusste Repräsentation brauchen wir also nur, wenn wir nicht genau wissen, was als Nächstes passieren wird und welche unserer geistigen Fähigkeiten (Aufmerksamkeit, begriffliches Denken, Gedächtnis, Bewegungskontrolle) wir benötigen
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