Der Ego-Tunnel
Könnte tiefe Meditation vielleicht genau der Vorgang sein – vielleicht der einzige Vorgang –, bei dem Menschen manchmal den globalen Hintergrund des Erlebens in die Gestalt verwandeln können, in das dominierende Merkmal des bewussten Erlebens selbst? Diese Annahme würde sehr gut zu einer intuitiven Vermutung passen, die viele andere führende Forscher hegen, unter ihnen auch Antoine Lutz – nämlich, dass man in derartigen Bewusstseinszuständen die grundlegende Subjekt-Objekt-Struktur des Erlebens transzendieren kann.
Interessanterweise braucht diese oszillatorische Aktivität mit einer hohen Amplitude im Gehirn von erfahrenen Langzeitmeditierenden mehrere Dutzend Sekunden, um sich schrittweise aufzubauen. Sie können es nicht einfach anschalten. Im Gegenteil, es scheint sich nur genau dann entfalten zu können, wenn der Meditierende es schafft, achtsam, aber anstrengungslos »beiseitezutreten«. Der tiefe, vollständig entfaltete Meditationszustand entwickelt sich nur langsam, aber genau das sagt die Theorie auch voraus: Weil es sich um ein gigantisches Netzwerkphänomen handelt, wird das Ausmaß an neuronaler Synchronisierung, das der Einheit des Bewusstseins zugrunde liegt, längere Zeit brauchen, um sich zu entwickeln. Denn die erforderliche Zeit zur Herstellung von Synchronizität ist proportional zur Größedes neuronalen Zellverbands – und in der Meditation muss eine orchestrierte Gruppe von vielen Hundert Millionen Nervenzellen gebildet werden. Die Oszillationen stehen darüber hinaus in direkter Beziehung zu den verbalen Berichten der Meditierenden über die Intensität des meditativen Erlebens – es besteht also ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen den Oszillationen und der berichteten Intensität selbst. Eine weitere interessante Entdeckung ist, dass es im Anschluss an die Meditationspraxis signifikante Veränderungen der Hirnaktivität im normalen Ruhezustand gibt. Anscheinend verändert also wiederholte Meditationspraxis die Tiefenstruktur des Bewusstseins selbst. Betrachtet man Meditation einmal nicht als Weg zur Befreiung, sondern als eine Form des mentalen Trainings mit therapeutischem Potenzial, dann zeigt sich, dass die oszillatorische Synchronizität im Gamma-Bereich genau das richtige Zeitfenster öffnet, das auch aus der Perspektive der Wissenschaft notwendig wäre, um Veränderungen an den synaptischen Verbindungen auf besonders wirksame Weise hervorzubringen.
Fassen wir zusammen: Im Moment scheint es so, dass eine Bindung von Eigenschaften genau dann auftritt, wenn im Gehirn weit verteilte Nervenzellen, die die Reflexion des Lichts, die Oberflächeneigenschaften und, sagen wir, das Gewicht dieses Buchs darstellen, damit beginnen, zusammen zu tanzen, indem sie genau gleichzeitig feuern. Dieses rhythmische Muster des Feuerns erzeugt eine kleine zusammenhängende Wolke in Ihrem Gehirn, ein Netzwerk aus Neuronen, die einen einzelnen Gegenstand – das Buch – für Sie darstellen, und zwar in einem bestimmten Moment . Das, was alles zusammenhält, ist also Kohärenz in der Zeit . Die Verschmelzung und Bindung von Eigenschaften erfolgt in der zeitlichen Dimension. Die Einheit des Bewusstseins erscheint deshalb als eine dynamische Eigenschaft des menschlichen Gehirns. Sie erstreckt sich über viele Organisationsstufen, sie organisiert sich selbst über die Zeit hinweg, und sie versucht ständig, eine optimale Balance zwischen den Teilen und dem Ganzen zu erreichen, während diese sich schrittweise entfalten und weiterentwickeln. Im EEG zeigt sie sich als eine langsam evolvierende globale Eigenschaft, und wie unsere Meditierendendemonstrieren, kann man sie auch von innen kultivieren und tiefer erforschen, aus der Erste-Person-Perspektive heraus. Lesen Sie dazu auch das Interview mit Wolf Singer am Ende dieses Kapitels.
Die Einheit des Bewusstseins ist also nichts Starres oder Metaphysisches, sondern ein Vorgang in der Welt – wenngleich einer, der viele Ebenen gleichzeitig durchdringt. Das nächste Problem für eine vollständige Theorie des Bewusstseins ist allerdings bereits etwas schwieriger.
Das Jetzt-Problem:
Die Entstehung eines gelebten Moments
Hier ist ein Beispiel für einen einfachen Punkt, den ich als Philosoph immer sowohl als faszinierend wie auch als hochgradig rätselhaft empfunden habe: Eine vollständige wissenschaftliche Beschreibung des physikalischen Universums würde keine Information darüber enthalten, welche Zeit »jetzt« ist. Das ist deshalb so, weil eine
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