Der Ego-Tunnel
eine alte philosophische Idee verfeinert, angereichert und durch die moderne Hirnforschung dann auf der Ebene des neuronalen Mechanismus detailliert ausbuchstabiert wird. In der bewussten Wahrnehmung wird eine stehende Kontextschleife erschaffen. Und das könnte eine tiefere Einsicht in das innere Wesen der welterzeugenden Funktion des bewussten Erlebens sein: Bewusste Information könnte genau deshalb integriert und einheitlich sein, weil der ihr zugrunde liegende physikalische Vorgang immer wieder auf sich selbst abgebildet wird und dadurch zu seinem eigenen Kontext wird. Wir können diese Überlegung jetzt nicht nur auf einzelne Repräsentationen anwenden, wie etwa auf das visuelle Erleben eines Apfels in Ihrer Hand, sondern auf das vereinheitlichte Porträt der Welt als einer Ganzheit , das vom Gehirn erzeugt wird. Dann erscheint der dynamische Fluss des bewussten Erlebens als das Ergebnis einer ständig ablaufenden Anwendung des Vorwissens, das unser Gehirn besitzt, auf die gerade gegebene Situation – und zwar in einem sehr großen, globalen Maßstab. Wenn wir bewusst sind, erzeugt der Gesamtvorgang des Wahrnehmens, Lernens und Lebens einen Kontext für sich selbst – und genau dadurch verwandelt sich unsere Wirklichkeit in eine gelebte Wirklichkeit.
Es gibt einen anderen wissenschaftlichen Weg, um tiefer in das Eine-Welt-Problem einzudringen, der besonders faszinierend ist und der sich zunehmender Aufmerksamkeit erfreut. Wir wissen seit langem, dass das Erlebnis der Einheit und der holistischen Integration in Zuständen tiefer Meditation ganz besonders klar und deutlich ausgeprägt ist. Wenn wir also wissen wollen, was die Essenz des Bewusstseins ist, warum sollten wir dann nicht diejenigen Menschen konsultieren, die es in seiner reinsten Form kultivieren? Oder noch besser, warum sollten wir nicht moderne bildgebende Verfahren benutzen und direkt in ihr Gehirn schauen, während sie die Einheit und die Ganzheitlichkeit ihres bewussten Geistes maximieren?
Antoine Lutz und seine Kollegen am W. M. Keck Labor für funktionale Bildgebung und Verhaltensforschung an der Universität von Wisconsin haben tibetanische Mönche untersucht, die eine Meditationserfahrung von mindestens 10000 Stunden besaßen. Sie fanden heraus, dass Meditierende lang anhaltende Gammaband-Oszillationen mit einer hohen Amplitude und eine globale Phasensynchronizität in ihrem Gehirn erzeugten, die in EEG-Messungen während der Meditation deutlich sichtbar waren. 10 Die bei manchen dieser Langzeitmeditierenden beobachtete Gamma-Aktivität scheint die stärkste zu sein, über die jemals in der wissenschaftlichen Literatur berichtet wurde. Warum ist diese Tatsache interessant? Wie Wolf Singer und seine Mitarbeiter gezeigt haben, gehören Oszillationen im Gammaband – die durch Gruppen von Nervenzellen verursacht werden, die gleichzeitig etwa vierzigmal pro Sekunde feuern – zu unseren gegenwärtig heißesten Kandidaten für die Erzeugung von Einheit und Ganzheit (obwohl ihre spezifische Rolle in dieser Hinsicht immer noch Gegenstand kontroverser Diskussionen ist). Zum Beispiel scheinen diese synchronen Oszillationen auf der Ebene der bewussten Gegenstandswahrnehmung häufig genau das zu sein, was die verschiedenen Merkmale eines Objekts – die Kanten, die Farbe, die Oberflächentextur eines Apfels etwa – zu einem einzigen vereinheitlichten Wahrnehmungsinhalt verbindet. Viele Experimente haben gezeigt, dass synchrones Feuern genau das sein könnte, was einen Verband von Nervenzellen, der Zugang zum Bewusstsein besitzt,von einem anderen unterscheidet, der ebenfalls feuert, allerdings auf unkoordinierte Weise und daher auch ohne Zugang zum Bewusstsein. Gleichzeitigkeit ist eine mächtige kausale Kraft: Wenn tausend Soldaten zusammen über eine Brücke gehen, geschieht nichts; marschieren sie dabei jedoch im Gleichschritt, kann es durchaus geschehen, dass die Brücke zusammenstürzt.
Die Synchronizität neuronaler Antworten spielt auch eine entscheidende Rolle bei der Trennung einer wahrgenommenen Figur vom Hintergrund, das heißt bei dem sogenannten Pop-out -Effekt, der es uns gestattet, einen Gegenstand vor einem Hintergrund wahrzunehmen und so eine neue Gestalt aus dem Gesamtbild einer Wahrnehmungsszene hervortreten zu lassen. Ulrich Ott ist Deutschlands führender Meditationsforscher und arbeitet am Bender Institute of Neuroimaging der Justus-Liebig-Universität in Gießen. Er hat mich mit einem faszinierenden Gedanken konfrontiert:
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