Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Ego-Tunnel

Der Ego-Tunnel

Titel: Der Ego-Tunnel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Metzinger
Vom Netzwerk:
werdet zugeben müssen, dass euer Tunnel kleiner ist als meiner!«
    Ich nehme an, dass viele meiner Leser solchen Verhaltensweisen bereits selbst begegnet sind. Es handelt sich um eine psychologische Strategie, die wir von unseren Vorfahren, den Primaten, geerbt haben, eine etwas subtilere Form von Imponiergehabe, die ihren Weg in die akademische Welt gefunden hat. Die Bedingung der Möglichkeit für diese neue Art von Machoverhalten ist die begrenzte Kapazität unseres sich durch die Zeit bewegenden Gegenwartsfensters. Wenn wir durch dieses Fenster schauen, sehen wir stabile, dauerhafte Gegenstände und bedeutungsvolle Folgen von Ereignissen. All diesen Erlebnissen von Dauer, Aufeinanderfolge und Bildung zeitlicher Ganzheiten liegt das felsenfeste Fundament der Gegenwärtigkeit zugrunde. Um wirklich zu verstehen, was das Erscheinen einer Welt ist, benötigen wir dringend eine Theorie, die uns erklärt, wie das menschliche Gehirn dieses zeitliche Gefühl der Gegenwärtigkeit erzeugt.
    Gegenwärtigkeit ist eine notwendige Bedingung für bewusstes Erleben. Wenn das Gehirn das Eine-Welt-Problem lösen könnte, nicht aber das Jetzt-Problem, dann könnte uns keine Welt erscheinen.Präsenz – Gegenwärtigwerden – erzeugt das subjektive Gefühl der zeitlichen Unmittelbarkeit, indem sie einen inneren Raum für das Zeiterleben schafft. Die Teile der Welt, die uns in der zeitlichen Unmittelbarkeit des Jetzt erscheinen, werden dadurch zu einer subjektiven Wirklichkeit, dass sie uns als direkt gegeben erscheinen.
    Ist es möglich, diese subjektive Jetzt-haftigkeit zu transzendieren, aus dem Tunnel der Gegenwärtigkeit zu fliehen? Stellen Sie sich vor, Sie sind in einem Tagtraum verloren, und zwar vollständig: Ihr bewusster Geist ist nicht mehr damit beschäftigt, »die gefährliche Gegenwart zu markieren«. Diejenigen Tiere in der Geschichte unseres Planeten, die so etwas zu oft gemacht haben, hatten kaum eine Chance, zu unseren Vorfahren zu werden – denn sie wurden von anderen, weniger verträumten Tieren gefressen. Aber was genau passiert eigentlich in dem Moment, in dem wir vollständig den Kontakt zu unserer gegenwärtigen Umgebung verlieren, also etwa in einem manifest gewordenen Tagtraum? Plötzlich sind wir an einem anderen Ort. Ein anderes gelebtes Jetzt hat sich in unserem Bewusstsein etabliert. Jetzt-heit ist also ein wesentliches Merkmal des Bewusstseins.
    Und natürlich ist sie eine Illusion. Wie uns die moderne Hirnforschung sagt, sind wir niemals in direktem Kontakt mit der Gegenwart, weil die neuronale Informationsverarbeitung an sich bereits Zeit verbraucht. Signale benötigen Zeit, um von den Sinnesorganen über die vielfältigen neuronalen Pfade unseres Körpers in unser Gehirn vorzudringen, und sie benötigen Zeit, um verarbeitet und in Gegenstände, Szenen und komplexe Situationen verwandelt zu werden. Genau genommen ist also das, was wir als den gegenwärtigen Moment erleben, in Wirklichkeit die Vergangenheit.
    An diesem Punkt wird auch klar, warum Philosophen über »phänomenales« Bewusstsein oder »phänomenales« Erleben sprechen. Ein Phänomen ist eine Erscheinung. Das phänomenale Jetzt ist die Erscheinung eines Jetzt. Die Natur hat unser Zeiterleben über einen Zeitraum von Millionen von Jahren optimiert, und darum erleben wir heute etwas als jetzt gerade stattfindend, weil diese Konfiguration für die Organisation unseres Verhaltensraums funktional adäquat war. Aber aus einer etwas strengeren philosophischen Perspektive gesehen,ist die zeitliche Innerlichkeit des bewussten Jetzt eine Illusion. Es gibt einfach keinen unmittelbaren Kontakt mit der Wirklichkeit.
    Dieser Punkt führt uns zu einer zweiten fundamentalen Einsicht in die tunnelartige Natur des Bewusstseins: Das Gefühl der Gegenwärtigkeit ist ein inneres Phänomen, das durch das menschliche Gehirn erzeugt wird. Es ist nicht nur einfach so, dass es da draußen keine Farben gibt, es gibt auch keinen gegenwärtigen Moment. Die physikalische Zeit fließt kontinuierlich. Das physikalische Universum kennt das nicht, was William James specious present , die »trügerische Gegenwart« nannte, und es kennt auch keinen ausgedehnten oder »verschmierten« gegenwärtigen Moment. Das Gehirn ist eine Ausnahme: Für bestimmte physikalische Systeme, Organismen wie uns selbst, hat es sich als eine gangbare Strategie erwiesen, unseren Pfad durch die Wirklichkeit so darzustellen, als ob es eine ausgedehnte Gegenwart gäbe, eine Kette individueller

Weitere Kostenlose Bücher