Der Ego-Tunnel
werden, um angemessen auf die Herausforderung zu reagieren, die hinter der nächsten Ecke auf uns wartet. Diese kritische Information muss aktiv gehalten werden, damit verschiedene Module oder Gehirnmechanismen gleichzeitig auf sie zugreifen können.
Meine eigene Vorstellung geht dahin, dass es genau diese Gleichzeitigkeit ist, für die wir das bewusste Jetzt benötigen. Um eine Antwort auf das eben angesprochene logistische Problem zu finden, haben unsere Gehirne gelernt, Innerlichkeit in der Zeit zu erzeugen, indem sie temporale Internalität simulieren. Um eine gemeinsame Plattform zu schaffen – sozusagen eine große Tafel, ein schwarzes Brett, auf das Botschaften an die verschiedenen spezialisierten Hirnregionen geschrieben werden können –, brauchen wir einen gemeinsamen Bezugsrahmen, und dieser Bezugsrahmen ist zeitlicher Natur. Obwohl streng genommen so etwas wie »das Jetzt« in der Außenwelt nicht existiert, hat es sich doch als adaptiv und vorteilhaft erwiesen, das innere Modell der Welt um ein solches Jetzt herum zu organisieren – und zwar indem wir einen gemeinsamen zeitlichen Bezugsrahmen für all die verschiedenen Mechanismen im Gehirn schaffen, damit sie alle auf dieselbe Information zum selbenZeitpunkt zugreifen können. Ein bestimmter Punkt in der Zeit musste auf privilegierte Weise dargestellt werden, damit er als »die Wirklichkeit« gekennzeichnet werden konnte. Die Vergangenheit ist Außenzeit, und dasselbe gilt auch für die Zukunft. Es gibt aber auch Innenzeit, diese Zeit, das Jetzt, den Moment, den wir gerade subjektiv durchleben. Alle unsere bewussten Gedanken und Gefühle finden ihren Ort in diesem gelebten Moment.
Wie könnten wir diese spezielle Form der Innerlichkeit im biologischen Gehirn finden? Natürlich hat das bewusste Zeiterleben noch andere Elemente. Wir erleben Gleichzeitigkeit. Haben Sie jemals bemerkt, dass Sie nicht durch einen Willensakt zwei verschieden Handlungen in genau demselben Moment auslösen können oder dass Sie nicht gleichzeitig zwei Entscheidungen fällen können? Wir erleben auch das Aufeinanderfolgen: zweier Noten in einem Musikstück, zweier Gedanken, die in unserem Geist vorbeitreiben, einer nach dem anderen. Und wir erleben Dauer: Ein musikalischer Ton oder ein bestimmtes Gefühl kann während eines bestimmten Zeitraums konstant bleiben. Aus all diesen verschiedenen Aspekten tritt das hervor, was der Neurowissenschaftler Ernst Pöppel – einer der großen Pioniere in diesem Forschungsfeld – und seine Kollegin Eva Ruhnau, die Direktorin des Humanwissenschaftlichen Zentrums der Ludwig-Maximilians-Universität München, als eine »zeitliche Gestalt« beschreiben: 13 Musikalische Noten können nämlich ein Motiv bilden, ein gebundenes Muster von Klängen, die eine Ganzheit konstituieren, die wir von einem Augenblick zum nächsten wiedererkennen. Auf gleiche Weise können einzelne Gedanken zu komplexeren bewussten Erlebnissen verknüpft werden, die wir dann als ein sich in der Zeit entfaltendes Muster beschreiben können, als den Gang einer Überlegung.
Übrigens gibt es auch eine Obergrenze für das, was wir bewusst als innerhalb eines einzigen Augenblicks stattfindend erleben können: Es ist fast unmöglich, ein musikalisches Motiv, den rhythmischen Teil einer längeren Gedichtpassage oder einen komplizierten Gedanken, der mehr als drei Sekunden dauert, als eine einheitliche zeitliche Gestalt zu erleben. Als ich in Frankfurt am Main Philosophiestudierte, versuchten die meisten Professoren in der Regel nicht, frei zu sprechen und ihre Vorlesungen aus dem Stegreif zu präsentieren; stattdessen lasen sie häufig neunzig Minuten lang aus einem Manuskript ab, wobei sie Salven von außerordentlich langen Schachtelsätzen auf ihre Zuhörer abfeuerten, eine nach der anderen. Ich hatte bald den Verdacht, dass es in diesen Vorlesungen und bei manchen geisteswissenschaftlichen Vorträgen überhaupt nicht um gelingende Kommunikation ging (obwohl sie recht häufig von Kommunikation handelten), sondern dass es sich hier um eine pseudointellektuelle Art von Angeberei und Drohverhalten handelte: »Ich werde euch eure eigene geistige Unterlegenheit demonstrieren, indem ich sorgfältig vorbereitete, phantastisch komplexe und scheinbar endlose Sätze auf euch abfeuere, einen nach dem anderen. Sie werden euren Kurzzeit-Puffer zum Zusammenbruch bringen, weil ihr sie nicht mehr in eine einzelne zeitliche Gestalt integrieren könnt. Ihr werdet nichts verstehen, aber ihr
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