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Der Ego-Tunnel

Der Ego-Tunnel

Titel: Der Ego-Tunnel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Metzinger
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Momente, durch die wir unser Leben leben. Mir gefällt James’ klassische Metapher sehr gut, wonach die Gegenwart nicht wie die Schneide eines Messers ist, sondern wie die ausgedehnte Sitzfläche eines Sattels, auf dem wir Platz nehmen und von dem aus wir in zwei Richtungen in die Zeit hinausschauen können. Natürlich folgt aus der illusorischen Ausgedehntheit des gegenwärtigen Moments im menschlichen Bewusstsein nicht, dass so etwas wie eine unausgedehnte Gegenwart auf der Ebene der Physik nicht existieren könnte. Aber erinnern wir uns daran, dass eine vollständige physikalische Beschreibung des Universums das Wort »jetzt« nicht enthalten würde, denn es gäbe keinen kleinen roten Pfeil, der uns sagt: »Dies ist dein Ort in der zeitlichen Ordnung.« Der Ego-Tunnel ist genau das Gegenteil einer absoluten und der Zeit enthobenen Sichtweise mit dem Auge Gottes. Er hat ein Jetzt, ein Hier – und ein Ich, welches jetzt hier ist .
    Das gelebte Jetzt besitzt einen faszinierenden Doppelaspekt. Aus erkenntnistheoretischer Perspektive ist es eine Illusion (die subjektive Gegenwart ist eine Erscheinung). Andererseits ist es auch wahr, dass das bewegliche bewusste Gegenwartsfenster sich für Geschöpfe wie uns als funktional adäquat und vorteilhaft erwiesen hat: Erfolgreich bündelt es Wahrnehmung, Denken und bewusste Willensakteauf eine Weise, die genau die richtigen Parameter für die Wechselwirkung mit der physikalischen Welt auswählt, in Umwelten wie denen, in denen unsere Vorfahren ums Überleben kämpften. Es sagt uns etwas über die kausale Tiefenstruktur unserer ökologischen Nische und unseres eigenen Körpers. In diesem Sinne ist es eine tiefe Form von Wissen: funktionales, nichtbegriffliches Wissen darüber, was sich mit dieser Art von Körper und dieser Art von Augen, Ohren und Gliedmaßen als vorteilhaft erweisen wird.
    Was wir als den gegenwärtigen Moment erleben, verkörpert implizites Wissen darüber, wie wir unsere Sinneswahrnehmungen mit unseren körperlichen Bewegungen auf flüssige und adaptive Weise verbinden und aufeinander abstimmen können. Trotzdem bezieht sich diese Art von Wissen nur auf die Art von Umwelt, die wir auf der Oberfläche dieses Planeten vorfanden. Andere bewusste Wesen in anderen Teilen des Universums haben vielleicht vollständig andere Formen des Zeiterlebens entwickelt. Vielleicht sind sie eingefroren in einem ewigen Jetzt oder besitzen eine phantastisch hohe Auflösung, vielleicht leben sie nur für die Dauer einiger weniger Erdminuten und erleben trotzdem mehr und intensivere einzelne Momente als eine Million menschlicher Wesen in ihrem ganzen Leben. Vielleicht sind sie Meister der Langeweile, Subjekte einer extrem langsam verfließenden inneren Zeit. Eine gute (und etwas schwerere) Frage ist in diesem Zusammenhang, wie groß eigentlich der Spielraum für verschiedene Variationen des subjektiven Zeiterlebens ist. Wenn meine Argumentation in die richtige Richtung deutet, dann kann ein bewusster Geist immer nur innerhalb eines einzigen, als real erlebten Jetzt situiert sein, denn genau dies ist eines der notwendigen Merkmale des Bewusstseins. Ist es logisch möglich, gleichzeitig in zwei oder mehr absolut gleichwertigen Gegenwarten zu leben, also eine subjektive Perspektive zu besitzen, die ihren Ursprung in mehreren Punkten einer zeitlichen Ordnung hat? Ich denke, dies ist ausgeschlossen, weil es dann nicht mehr ein einzelnes, gegenwärtiges »Selbst« gäbe, das all diese Erlebnisse hätte . Außerdem lässt sich kaum eine Situation vorstellen, in der das bewusste Erleben mehrerer gelebter Gegenwarten in unserer eigenen Welt tatsächlich adaptivgewesen wäre. Obwohl also aus einer strengen philosophischen Perspektive oder vom Standpunkt eines Physikers aus betrachtet, so etwas wie eine ausgedehnte Gegenwart nicht existiert, muss es doch tiefere biologische Wahrheiten und möglicherweise auch eine profunde evolutionäre Weisheit hinter der Art und Weise geben, in der Wesen wie wir selbst Zeit in unserem eigenen Gehirn darstellen.
    Selbst wenn man eine radikal materialistische Sichtweise von Geist und Bewusstsein voraussetzt, muss man zugestehen, dass es eine komplexe physikalische Eigenschaft gibt, die (soweit wir bis jetzt wissen) nur in biologischen Nervensystemen auf diesem Planeten entstanden ist. Diese neue Eigenschaft ist das virtuelle Gegenwartsfenster des Bewusstseins. Es wurde zum ersten Mal in den Gehirnen von Wirbeltieren und insbesondere von höheren

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