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Der Ego-Tunnel

Der Ego-Tunnel

Titel: Der Ego-Tunnel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Metzinger
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Theoretikern brauchen, um unser Verständnis der neuronalen Prozesse, die höheren kognitiven Funktionen zugrunde liegen, zu verbessern.
    Metzinger : Wolf, weshalb haben Sie ein so großes Interesse an derPhilosophie, und was für eine Philosophie wünschen Sie sich für die Zukunft? Welche relevanten Beiträge erwarten Sie von den Geisteswissenschaften?
    Singer : Mein Interesse an der Philosophie speist sich aus der Gewissheit, dass Fortschritte in der Neurobiologie einige Antworten auf die klassischen Fragen der Philosophie liefern werden. Dies gilt für die Epistemologie, die Philosophie des Geistes und die Moralphilosophie. Fortschritte in der kognitiven Neurowissenschaft werden uns Aufschluss darüber geben, wie wir wahrnehmen und inwieweit unsere Wahrnehmungen Rekonstruktionen und keine Repräsentationen absoluter Realitäten sind. Je mehr wir über die Emergenz mentaler Leistungen aus komplexen neuronalen Wechselwirkungen erfahren, desto deutlicher werden sich mögliche Lösungen für das Geist-Körper-Problem abzeichnen, und wenn wir verstehen, wie unsere Gehirne Werte zuweisen und zwischen geeigneten und ungeeigneten Zuständen unterscheiden, werden wir mehr über die Evolution und Konstitution von Sittlichkeit erfahren.
    Umgekehrt braucht die kognitive Neurowissenschaft die Geisteswissenschaften – aus mehreren Gründen. Erstens, der Fortschritt in den Neurowissenschaften wirft zahlreiche neue ethische Probleme auf, und nicht nur Neurobiologen, sondern auch Vertreter der Geisteswissenschaften müssen sich damit auseinandersetzen. Zweitens, mit dem neurowissenschaftlichen Fortschritt lassen sich immer mehr Phänomene, die traditionell Gegenstände geisteswissenschaftlicher Forschung gewesen sind, mit neurowissenschaftlichen Methoden untersuchen; folglich werden die Geisteswissenschaften die Taxonomie und Beschreibung von Phänomenen bereitstellen, die ihrer Untersuchung auf neuronaler Ebene harren. Die Hirnforschung beginnt mit der Analyse solcher Phänomene wie Empathie, Eifersucht, Altruismus, geteilte Aufmerksamkeit und soziale Prägung – Phänomene, die traditionell von Psychologen, Soziologen, Ökonomen und Philosophen beschrieben und analysiert wurden. Die Klassifikation und exakte Beschreibung dieser Phänomene sind Voraussetzungen für dieneurowissenschaftlichen Versuche, die zugrunde liegenden neuronalen Prozesse zu identifizieren. Zweifellos wird es in naher Zukunft zu einer engen Zusammenarbeit zwischen den Neuro- und den Geisteswissenschaften kommen – eine erfreuliche Entwicklung, da sie einige der Gräben, die die Naturwissenschaften in den letzten Jahrhunderten von den Geisteswissenschaften getrennt haben, zu überbrücken verspricht.

Teil II
NEUE IDEEN UND NEUE ENTDECKUNGEN

Kapitel 5
PHILOSOPHISCHE PSYCHONAUTIK
Was können wir aus dem luziden Traum lernen?
    Während der Nacht des 6. Mai 1986 wurde ich mir der Tatsache bewusst, dass ich gerade schlief und zugleich in einer Spiralbewegung aus meinem physischen Körper austrat, auf die typische Weise, die der Schweizer Biochemiker Ernst Waelti beschrieben hat (siehe Kapitel 3 ). Hier ist meine »Fallstudie«:
    Vor meinem Bett stehend, erkannte ich sofort, dass ich mich zum ersten Mal seit zwei Jahren wieder im außerkörperlichen Zustand befand. Die Klarheit, dasselbe elektrisierende Gefühl von Leichtigkeit in meinem Doppelkörper – ich war aufgeregt und sehr glücklich und begann sofort, damit zu experimentieren. Ich bewegte mich zur geschlossenen Glastür, die auf den Balkon im ersten Stock meines Elternhauses führte. Ich berührte die Tür, drückte sanft, bis ich in sie eindringen konnte und hinaus auf den Balkon glitt. Ich flog hinunter in den Garten und landete auf dem Rasen, wo ich mich im blassen Mondlicht umherbewegte und verschiedene Gegenstände betrachtete. Wiederum war der Gesamtcharakter der Erfahrung kristallklar.
    Als ich befürchtete, den Zustand nicht länger aufrechterhalten zu können, flog ich zurück nach oben, kehrte irgendwie zu meinem physischen Körper zurück und erwachte mit einer Mischung aus großem Stolz und Freude. Ich hatte es wieder nicht geschafft, irgendwelche verifizierbaren Beobachtungen zu machen, aber ich hatte eine weitere OBE gehabt, auf klare, kognitiv nicht eingetrübte Weise, vollständig kontrolliert und ohne irgendwelche Filmrisse oder Blackouts. Ich setzte mich auf, um Notizen zu machen, solange der Eindruck noch frisch war, konnte aber keinen Stift finden.
    Ich sprang aus dem Bett und

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