Der Ehrengast
änderte sich, er versuchte rasch, sich zu korrigieren. »Mit den ersten von uns, die aus fremden Ländern hier vor drei- oder vierhundert Jahren als Besatzer eingedrungen sind, hat ein folgenschwerer Kreislauf des Wandels seinen Anfang genommen. Wir neigen zur Annahme, daß sich dieser Kreis mit der Unabhängigkeit schließt … aber es ist nicht so … der Prozeß ist immer noch im Gange – das ist alles, und man darf das nie vergessen. Und was die Invasoren betrifft – wir wissen noch immer nicht, ob ihre Überreste letztendlich ein für allemal ausgespien oder ob sie hinuntergeschluckt werden. Soweit sich das im Augenblick absehen läßt, tendieren diejenigen Staaten, die sich für den Sozialismus entschieden haben, dazu, rein schwarzafrikanisch zu werden, während die kapitalistischorientierten Staaten eine genauso oder fast so große Zahl von Nachfahren der Besatzer aufweisen wie vorher. Das ist nicht weiter überraschend. Aber das alles kann sich wieder ändern …«
»Meine Leute sind fortgezogen, um sich in England niederzulassen – meine Eltern«, sagte sie. »Ich weiß nicht … ich habe das Gefühl, ich wäre dazu zu faul, verstehen Sie? Ich rede dabei nicht vom Geschirrabwaschen – ich meine, um meine Lebensweise zu ändern.«
»Wo haben Sie denn gelebt, bevor Sie hierherkamen?«
»Ach, in Kenia. Ich bin da geboren, mein Bruder ebenfalls. Als man seine Stelle mit jemand anders besetzte, ging er nach Malawi hinunter, und als Gordon – als der Vertrag meines Mannes nicht verlängert wurde, übersiedelten wir zuerst nach Tansania. Clive ist dort zur Welt gekommen.« Sie legte ihre Hand um den Hals des Kindes, und er schüttelte sie ab. Er sagte: »Will er auch mit zum Schwimmen kommen?«
»Silly-Billy, du weißt doch, daß wir bloß das Geschenk von Vivien abholen wollten …« Die Kinder lärmten, man solle es aufmachen. Als sie losfuhr, zerrten sie am Einpackpapier wie kleine Hunde, die sich um einen Knochen streiten. Sie wandte sich um, um ihm zum Abschied zuzulächeln; zwischen ihren Augenbrauen bildete sich bereits eine Falte der Anstrengung.
Er ging zurück zu seinem Feigenbaum und blieb vor seinen Notizen, den Berichten und Zeitungsausschnitten, die da auf ihn warteten, sitzen. Er zündete sich eine Zigarre an und schnippte Ameisen weg, die von den Ästen gefallen waren und über seine handgeschriebenen Zeilen krabbelten. Es gab da diesen Engpaß, der in dem Augenblick entstehen würde, da man sich eifrig bemühte, jedes Kind in eine Schule zu stecken, und der Abgang von Volksschülern die Anzahl der vorhandenen Plätze in den Sekundarschulen überschritt. Es war relativ einfach, im ganzen Land Volksschulen zu bauen und diese mit Lehrkräften zu besetzen; aber was dann? Kenia. Er entdeckte eine eigene Anmerkung dazu: Jedes vierte oder fünfte keniatische Kind, das die Voraussetzungen für die Sekundarschule mitbringt, findet keinen Platz. InGedanken, nicht auf dem Papier, das vor ihm lag, schrieb er sich etwas auf. Man müßte sich realistisch bemühen, Volksschulabgänger in Richtung Landwirtschaft umzulenken, wo sich – wenigstens für die nächsten zwei Generationen – ohnehin die meisten ihren Lebensunterhalt würden verdienen müssen. Seine Augen wanderten unachtsam wie eine der Ameisen die Tabelle hinunter, die er über die Anzahl von Lehrern und Schulen und die Höhe der Budgetanteile für das Unterrichtswesen in vergleichbaren Ländern angefertigt hatte. Olivia hatte geschrieben und Photographien ins Kuvert gesteckt: Venetias Baby lag da, nackt, sah auf – in seinem Blick die lebhafte Reaktion eines ersten Lächelns. Shinza hatte das rosig-gelbhäutige Kind in einer Hand gehalten. Die dritte Seite von Olivias Brief, die zuoberst lag, setzte wie nach einer abgebrochenen Unterhaltung ein:
überhaupt nicht, wie man vielleicht erwarten würde, es entspricht eher der Idealvorstellung, wonach jedes Kind einfach aufgrund der Tatsache, daß es eben ein Kind ist, die gleichen Ansprüche an dich stellt. Ich komme mir eher befreit als eingeengt vor.
Fasziniert betrachtete er diese ferne Landschaft der Aussöhnung zwischen persönlicher Leidenschaft und unpersönlicher Liebe, zwischen Zuwendung und Wahrung des Abstandes, das Inbild von Gnade, wie es dieser liberalen Agnostikerin immer vorgeschwebt war. Einer großmütterlichen Gnade, wie sich herausstellte. Seine Frau war beinahe ebenso alt wie er; sie hatten während des Krieges geheiratet. Ein paar Jahre jünger als Shinza. Sie strebte
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