Der Ehrengast
Dieses Geheul ist das Produkt eines Irrtums, und dieser Irrtum muß richtiggestellt werden. ›Verrat‹ ist nicht national, sondern sozial. Man muß das Volk lehren, ›Haltet den Dieb!‹ zu rufen. Auf seinem beschwerlichen Weg zum rationalen Denken muß das Volk auch seine allzu vereinfachte Vorstellung von den Herrschenden aufgeben.«
Er legte sich wieder ins Bett und lag wach da, während ihr Kopf auf seinem Arm lag und ihr Bein zwischen die seinen geglitten war; wenn sie irgendwo nahe an der Oberfläche des Wachzustands auftauchte, spürte er die Bewegung ihrer Lippen am Haar auf seiner Brust. All die Stunden während dieser Nächte, in denen er sich in einem Zustand inneren Aufruhrs befand, war ergleichzeitig in tiefstem Frieden. Es war ihm bewußt, daß er diese beiden Widersprüche ausbalancierte. Seine Mutter hatte einmal eine Freundin gehabt, die immer, wenn sich jemand plötzlich mit außergewöhnlichen Anforderungen konfrontiert sah, schadenfroh gesagt hatte: Jetzt weiß er, daß er lebt.
Er fragte sich, ob sie gewußt hatte, was sie da sagte.
Er sah die silbrigen Antennen der beiden Polizeijeeps, die, vollbesetzt mit Selufus Männern, durch Blatt- und Buschwerk dahinpeitschten. Es war Nachmittag, und er kam gerade aus einem Dorf zurück, das eines Tages zu den Vororten von Gala zählen würde. Das war der Weg herauszubekommen, was gerade los war: Man hielt Augen und Ohren offen. Er erwähnte es gegenüber Aleke, als er im
boma
vorbeischaute, und Aleke mußte, kaum daß er wieder aus dem Zimmer war, Selufu angerufen haben. Egal, am nächsten Nachmittag wußte jeder, was passiert war. Ein Arbeiter, der beim Eisenbahnbau arbeitete – nun schon vierzig Meilen vor Gala –, war getötet worden. Die anderen Arbeiter legten aus Protest gegen die Arbeitsbedingungen ihre Spitzhacken nieder; sie bedrohten die italienischen Vorarbeiter. Einer von ihnen fuhr, die Hälfte der Strecke im Busch, die andere Hälfte auf Waldwegen, nach Gala. Als Selufus Polizisten zur Baustelle kamen, stellten sie fest, daß die Leute aus der nahe gelegenen Ortschaft Kasolo, aus der die Gelegenheitsarbeiter für diesen Streckenabschnitt rekrutiert worden waren, den toten Arbeiter nach Hause geschafft hatten, um ihn zu begraben, und unmittelbar nach dem Begräbnis in einer Art Tobsuchtsanfall von Trauer weggegangen waren, um sich den Streikenden anzuschließen. Die Vorarbeiter hatten sich in dem Eisenbahnwaggon, in dem sie schliefen, verbarrikadiert; ein Güterwaggon war angezündet und Gerätschaften und Werkzeug waren in den Fluß gestürzt worden.
»Die Lage wird jetzt ein wenig heißer, vor dem Kongreß«, lautete Alekes Kommentar, so als wäre das nur zu erwarten gewesen. Er, Bray und Rebecca tranken Tee, um ihrem Aufenthalt in Alekes Büro einen Sinn zu geben. Nun, da Selufu ohne die besten Männerseiner kleinen Streitmacht war, war es in der Fischmehlfabrik und in den Ziegelwerken im Industriegebiet von Gala selbst zu obskuren Differenzen zwischen den Jungpionieren der PIP und den Arbeitern gekommen. Sie griffen nach Arbeitsschluß auf die Townships über, und im Triumphzug zog sogar eine Bande von Herumtreibern durch die Stadt und die Hauptstraße. Rebecca war ihnen auf der Heimfahrt begegnet; sie wiederholte: »Ich hupte, und sie machten mir irgendwie Platz, und dabei schrien sie die ganze Zeit, aber ich glaube nicht, daß es mir gegolten hat.« Vielleicht wollte sie hören, das sei tollkühn oder unverschämt frech gewesen; was sie in Frage stellte, war aber eher ihr eigenes Verhalten als das der Bande: Er sagte zu ihr: »Nun, du hättest das doch eigentlich verstehen müssen?«, und tat dabei so, als tadle er sie als ihr Sprachlehrer. »Ich hab bloß ungefähr so viel verstanden wie ›wir kommen‹« – und wiederholte zur Bekräftigung die entsprechende Wendung in Gala.
»Die Leute haben gern ein bißchen Aufregung, das ist alles. Zumindest war das heute morgen mein Eindruck.« Aleke war in das Township gerufen worden, um den Bürgermeister, Joshua Ntshali, auf einer Inspektionsfahrt zu begleiten. Selufu war kein Narr und überlegte, daß ein Auftauchen von Beamten in Zivil und der städtischen Autoritätsträger nicht nur seinen Mangel an polizeilichen Ordnungskräften kaschieren, sondern sogar den Eindruck entstehen lassen könnte, die Präsenz von Polizisten sei überflüssig. »Eine Menge Leute blieb grundlos daheim, anstatt zur Arbeit zu gehen – wir sahen sie vor den Häusern herumstehen, und dabei hätten
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