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Der Ehrengast

Der Ehrengast

Titel: Der Ehrengast Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nadine Gordimer
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beide unrecht. Er wollte glauben, keiner der beiden würde sich mehr des Verrates schuldig machen, als es aufgrund der täglichen Abnutzung der an die Macht gelangten menschlichen Fehlbarkeit unumgänglich war, wenn sie zusammengingen. Genau als das definierte er es für sich selbst, um seinen Standpunkt, daß das, was er glaubte, einfach das Vernünftige war, nicht aufgeben zu müssen.
    Manchmal, wenn die tote, stille Pause (Minuten? Stunden?) zwischen dem Nachlassen der Nacht- und dem Einsetzen der Vordämmerungsgeräusche vom schrillen Unisono der Vögel erobert wurde, die mit ihrem Tschilpen die Dunkelheit verjagten, ordneten sich die Fakten in seinem Kopf auf eine andere Weise. Die Bedeutung von Shinzas Allianz verringerte sich; Mweta brauchte Shinza bloß wieder neben sich einzusetzen, Mpana durch ein Provinzamt auszusöhnen, die Vorherrschaft der PIP innerhalb der Gewerkschaft zu brechen – es war zu machen. UndShinza hatte gesagt: »Ich weiß immer ganz gerne, daß ich eine Chance habe zu gewinnen.« Mit seiner Namensliste der Alliierten – Mpana; vielleicht sogar ein paar von Nagatses Leuten; eine Anhängerschaft in der Gewerkschaftsbewegung, deren Stärke und Größe man nicht schätzen konnte; diese wilde Geschichte mit Somshetsi, der auf der anderen Seite der Grenze saß – konnte er eine reale Chance haben?
    Aber das bedeutete, es – bei geschlossenen Augen, da alles mit einem Mal präsent war – vorzuziehen, andere Fakten, Berge von Fakten, zu ignorieren. Tom Msomane, der Arbeitsminister, hatte eines Tages gesagt, die Unruhe unter den Industriearbeitern sei nicht auf »reale Forderungen«, sondern auf »Agitation« zurückzuführen, und hatte am nächsten Tag verzweifelt die Implikation zu vertuschen versucht, es gebe unter den Arbeitern etwas wie Unzufriedenheit in politischer Hinsicht. Wie viele der Streiks und Meinungsverschiedenheiten hatte Shinza, als Vater des Gedankens, angefacht? Man konnte ihm zuviel oder zuwenig anlasten. Und welchen Sinn hatte es zu glauben, Mweta brauche bloß die schwere Hand der PIP vom Rücken der Gewerkschaften zu nehmen – Mweta glaubte doch, am schnellsten ließe sich die Wirtschaft zum Wohle der Arbeiter und aller anderen Staatsbürger entwickeln, wenn man die Arbeitgeber-Investoren dadurch unterstützte, daß man ihnen eine willige Arbeiterschaft garantierte.
    Umhüllt war dieses Firmament nicht miteinander in Einklang zu bringender Fakten von seiner eigenen Atmosphäre – Emotion, die es umschloß wie eine Speichelschicht, mit der ein Insekt sein zentrales Lebensinteresse umgibt, seine Eier; er ärgerte sich über Shinza, weil er dachte, Shinza habe recht, und ärgerte sich über Mweta, weil er nicht zugeben konnte, Mweta habe unrecht. Und gleichzeitig war er (war’s jetzt vier Uhr früh, fünf?) bereit, sein eigenes Urteil wie einen Grabstein umzudrehen, um darunter bloß jene Dinge zu finden, die eben unter Steinen liegen.
    Er stand auf, um im stickigen Badezimmer Wasser zu lassen. Er benutzte das Waschbecken und ließ das Leitungswasser leiseals Spülung rinnen, um sie nicht durch den Lärm der Klosettspülung zu stören. Einmal drängte sich hartnäckig etwas in seine Gedanken, das Shinza gesagt hatte – »Man muß die Leute lehren, ›Haltet den Dieb!‹ zu rufen«. In welchem Zusammenhang hatte das gestanden? Shinza hatte gesagt: Schlag’s nach. Er tappte den Gang zum Wohnzimmer hinunter und drehte das Licht an. Die Aschenbecher randvoll, kalt. Im Kamin Weinranken, und auf dem Tisch eine Tasse elenden Kaffees. Er war nackt und kniete, an den Fesseln die baumelnde, feuchte Berührung seiner selbst, während er das Regal mit den Regierungsnachlässen durchsuchte. Er hatte schließlich Fanon nach Afrika mitgenommen. Die Seiten der Taschenbuchausgabe hatten die Farbe unterschiedlich starker Nikotinflecken rund um einen Zigarettenstummel angenommen. Er fand die Stelle: »›Haltet den Dieb!‹ rufen. Auf seinem beschwerlichen Weg zum rationalen Denken muß das Volk …« Er ging ein paar Zeilen zurück, um den Sinnzusammenhang zu erfassen. »… und doch schien davor alles andere so einfach zu sein: die Bösen waren auf der einen Seite, die Guten auf der anderen. Dem klaren, unwirklichen, idyllischen Licht des Anfangs folgt das Halbdunkel, das die Sinne verwirrt. Die Menschen müssen feststellen, daß die schändliche Tatsache der Ausbeutung ein schwarzes Gesicht tragen kann, oder aber ein arabisches; und sie stimmen das Geheul vom ›Verrat!‹ an.

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