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Der Ehrengast

Der Ehrengast

Titel: Der Ehrengast Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nadine Gordimer
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und stellte ihn so auf, daß er einen Blick auf ihn werfen konnte. Schon verfiel er in die Junggesellengewohnheit, während des Essens zu lesen. Es fiel ihm wieder ein, und er machte sich einen Vermerk, daß er dem Schullehrer ein Oxford Dictionary schicken wollte.
    Also fing all das wieder von vorne an; halb amüsierte es ihn, halb verachtete er sich dafür. Der Mann war in jeder Beziehung so verzweifelt arm – wessen hätte er denn nicht bedurft? Olivia hatte immer gesagt: »Wohltätigkeit ist einfach lächerlich.« Hier, hatte sie gemeint – damals. Sie hatte Wohltätigkeitsbazare organisiert, mit deren Hilfe die karitativ tätigen weißen Frauen das Geld für eine Klinik für schwarze Kinder aufbringen wollten, während von den Minen Jahr für Jahr Dividenden in Millionenhöhe an die Aktionäre in England ausgeschüttet wurden. Zur Eröffnung der Wohltätigkeitsbazare hatte sie weiße Handschuhe anziehen müssen; aus den Zeitungsphotos, die von ihnen, unter der Sensation ihrer Abberufung aus dem Land, gemacht worden waren, hatten ein Staatsbeamter und eine Lady herausgesehen, die einem Paar jener Art, auf die sich weiße Siedler so lange verlassen hatten, verwirrend ähnlich sahen.
    Nach dem Abendessen ging er zurück in sein Zimmer, vorbei an der Bar und den erhitzten Gesichtern – ein großgewachsener Engländer mit dem Gang eines Verwaltungsbeamten, eines Mannes, der ewig Akten unter dem Arm herumtrug.
    Er legte sich in ein Bett, das – wie beinahe alle Hotelbetten – zu klein für ihn war, und las. Die Fassung von Mrs. Pilcheys angeklemmtemBettlämpchen war zerbrochen, und so schaltete er die Deckenbirne ein. Sie strahlte auf einen Punkt genau zwischen seine Augen. Er las den ganzen Inhalt des Ordners aus dem Kultusministerium durch; sehr wenig, womit sich wirklich etwas anfangen ließ. Die Zahlen waren größtenteils nicht sachgerecht analysiert, und das häufige »unvorhergesehene Umstände«, das für den hohen Prozentsatz von Fehlschlägen verantwortlich war oder für die Einstellung von Versuchsprojekten bescheidener Art, wurde kein einziges Mal erklärt. Als er das Licht ausdrehte, war die Stille tief, tiefer – so als mäße die Nacht die Entfernung ab, die er nun schon zurückgelegt hatte.
    Seine erste Woche in Gala verbrachte er damit, was er in Briefen nach England als häusliche Tätigkeiten bezeichnete. Das Haus, das von einem Buchhalter, den das neue Verwaltungssystem für überflüssig erklärt hatte, geräumt worden war, besaß keinen Koch und keine Vorhänge. Er blieb im Hotel im Ort, während Mundpropaganda ihm Stellenbewerber zuführte und der indische Schneider sich bereit erklärte, die Vorhänge zu nähen. Brays Wahl des Materials machte Mr. Joosab unglücklich, aber Bray und Olivia hatten immer die kastanienbraunen und schwarzen, orangenen und braunen Farbtöne gemocht und die wirren Schriftzüge, die in Suaheli oder Gala auf den Stoff, mit dem die hiesigen Frauen sich ihre Babys umbanden, gedruckt waren – diesmal brauchte er sich nicht den Kopf darüber zu zerbrechen, was für das Haus eines Distriktskommissars passend sein mochte.
    Die breite Hauptstraße – mehr war Gala nicht – war entlang der zu einem Rücken sich aufwölbenden Mitte geteert, aber zu beiden Seiten von einem breiten Rand aus roter Erde gesäumt, der fleckig, pockennarbig war und manchmal durch die tiefen Schatten der Mahagonibäume, die sich über sie neigten, verdeckt wurde. Gala war, in den Begriffen der Kolonialzeit, ein alter Ort; aber schon bevor es zu einem Vorposten der Briten geworden war, hatte Tippo Tib hier einen seiner südlichsten Sammelplätze für Sklaven angelegt – im Norden lag das Gelände, auf dem dasarabische Fort gestanden hatte. Mauern waren im Dorf zusammengebrochen, aber Bäume waren übriggeblieben; zu groß, um aus dem Trampelpfad der Sklavenkarawane herausgehackt zu werden; zu mächtig, als daß sie im Zuge der Unterwerfung der Bevölkerung durch die britischen Truppen durch Feuer hätten zerstört werden können; und von mehreren Generationen von Kolonistenfrauen waren sie verehrt worden; sie hatten durchgesetzt, daß eine lokale Verordnung erging, die das Fällen der Bäume untersagte. Ihre riesigen, grauen, aus dem Boden ragenden Wurzelschößlinge boten sich als Fahrradständer an, und der Schuhmacher arbeitete unter ihnen, der Fahrradmechaniker und der Mann, der die Nähmaschinen reparierte. Es gab einen Sklavenbaum (unter ihm war vor nicht mehr als hundert Jahren der

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