Der Eid der Heilerin
sich Moss vor Anne und bedeutete ihr, ihm zu folgen.
Ohne den Doktor zu beachten, hob Anne den schwarzen Mantel vom Boden auf und drückte ihn ihm in die Hände. Die Botschaft war eindeutig: Diesmal würde sie ihr Gesicht nicht verbergen.
Als Moss Anne zu ihren Gemächern zurückbrachte, schmeckte er die Angst, die sauer wie Essig auf seiner Zunge lag. Er hatte Anne zum König zurückgebracht und sich damit, ohne es zu wollen, selbst überlistet. Aber warum?
Annes Verschwinden vom Königshof hatte Moss misstrauisch gemacht, und schon bald war er zu der Überzeugung gelangt, dass sie sich nur mit Mathew Cuttifers Hilfe und Jehannes aktiver Unterstützung vor dem König verstecken konnte. Gezielte Bestechung einiger Dienstboten von Blessing House verschaffte ihm die gewünschte Information. Mathew Cuttifer hatte heimlich eine bis dahin unbekannte »Cousine« seiner Frau zu seinen Ländereien im Norden geschickt. Die Beschreibung dieser Cousine passte auf Anne.
Die Ereignisse bei Hofe überschlugen sich, auch die Schwangerschaft der Königin schritt zusehends voran. Elizabeth war im fünften Monat, und ihr Zustand wurde immer bedenklicher, genau wie beim letzten Kind. Je schlechter es der Königin ging, umso wütender suchte sie nach einem Schuldigen, den sie für ihre Ängste und ihr Unwohlsein verantwortlich machen konnte. Moss war das geeignetste Opfer. Dieser versuchte Zeit zu gewinnen, indem er den königlichen Zorn auf Jehanne lenkte, doch er wusste, dass er ohne fremde Hilfe mit dieser Schwangerschaft nicht fertig werden und seine Stellung am Hof würde sichern können. Vor allen Dingen brauchte er Annes Kenntnisse über Heilkräuter und Schmerzmittel, was sie also doppelt wichtig für ihn machte. Er spielte seinen Trumpf aus und ließ Edward wissen, dass Mathew Cuttifer Anne geholfen hatte, sich zu verstecken.
Der König, der anfangs nicht glauben wollte, dass Anne sich ihm absichtlich entzogen hatte, raste vor Wut. Er ließ Mathew zu sich rufen und drohte ihm. Wenn er sein Leben und seine wirtschaftlichen Interessen retten wolle, müsse er Anne schnellstens wieder herbeischaffen. Wenn nicht, würden seine Geschäfte und sämtliche von ihm kontrollierten Monopole auf persönliche Anweisung des Königs durch Diener der Krone vernichtet werden. Dennoch verzichtete er darauf, seine Drohungen wahr zu machen, da er immer noch auf die Unterstützung des Kaufmanns angewiesen war, wollte er den drohenden Aufstand ersticken - und Mathew war der Schlüssel zu den Zünften von London. Doch sein Schwert schwebte drohend über Blessing House, und alle seine Bewohner wussten es.
Armer Mathew. Clarence stand offiziell wieder in der Gunst des Königs, und am Hof wurde gemunkelt, zwischen dem König und Warwick herrsche wieder eine fragile Einigkeit. Was sollte er tun? Er war im Besitz der Briefe, die Annes Herkunft bewiesen, auch wenn sie selbst sie noch nicht gesehen hatte. Und soweit er wusste, kannte bis jetzt niemand, vor allem nicht der König, ihre wahre Identität. Sollte er sie jetzt preisgeben? Es war ein schreckliches Spiel, auf das er sich eingelassen hatte.
Moss wiederum hatte keine Ahnung, wie hoch der Einsatz mittlerweile war. Während er mit Anne durch den dunklen Palast eilte, versuchte er mehrmals, mit ihr zu sprechen, doch sie verweigerte jegliche Antwort, auch wenn sie ihn von Zeit zu Zeit schweigend von der Seite ansah. Ihr Blick, eine Mischung aus Verachtung, Zorn und, ja, Mitleid, verunsicherte ihn mindestens ebenso sehr wie die letzten Worte des Königs.
Verräterin? Wieso war Anne eine Verräterin? Nur weil der König ihr nicht verzeihen wollte, dass sie sich weigerte, mit ihm ins Bett zu gehen? Das war sonst nicht seine Art, was Frauen betraf. Normalerweise würde er mit den Achseln zucken und sich dem nächsten willigen Mädchen zuwenden.
Es war spät geworden, und die Palastbewohner begaben sich allmählich zur Ruhe. Als er und Anne die letzte Treppe erklommen, die zu den ihr zugewiesenen Zimmern führte, hörte er plötzlich eine Stimme. »Anne! Anne, bist du es?« Anne drehte sich um, lief auf Evelyn, ihre engste Freundin unter den Kammerjungfern, zu und umarmte sie.
»Evelyn. Hab keine Angst. Siehst du, ich bin wieder da.« Doch das Mädchen starrte sie nur sprachlos an. Anne lachte auf. »Nein, ich bin kein Geist... Evelyn, sag doch etwas!«
Evelyn schielte zu Doktor Moss hinüber, der die Hand ausstreckte und Anne am Arm packen wollte. Aber bevor sie etwas sagen konnte, drehte Anne
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