Der Eid der Heilerin
verstecken, denn es war nicht zu übersehen, dass Anne schwer an unausgesprochenen Ängsten zu tragen hatte.
Die kurzen, gleichförmigen Tage verstrichen, und der Januar machte dem Februar Platz. Anne lernte, ihre Gedanken und Sorgen mithilfe von Handarbeiten in Schach zu halten. An einem Nachmittag in der ersten Februarwoche hatte sie so viel Wolle gestrichen, gekämmt und zu feinem Garn versponnen, dass Alicia sie verwundert darauf ansprach.
»Wahrhaftig, Lady, Ihr seid die beste Spinnerin, die ich je hatte. Aber Ihr müsst das nicht tun. Ihr habt schon mehr als genug gearbeitet.«
Anne lachte. »Es ist so lange her, dass ich das letzte Mal gesponnen habe. Ihr meint es nur gut mit mir.«
Alicia betrachtete kopfschüttelnd die Docken feinen Wollgarns und die Haufen ungekämmter Wolle daneben. »Wenigstens sollten wir Euch eine bessere Arbeit geben. Arbeit, die niemals ein Ende findet, ist schlecht für die Seele. Wenn es das Wetter erlaubt, können wir morgen ins Heideland wandern und am Bach Gänsekraut sammeln. Daraus lässt sich ein schönes dunkles Rot gewinnen, wenn es lange genug mit Asche gekocht wird. Wir könnten aus all der Wolle, die Ihr versponnen habt, Stoff für ein rotes Hauskleid für Euch weben.«
Eine plötzliche Unruhe im Innenhof unterbrach das Gespräch der Frauen. »Besucher? Jetzt? Wer ...« Alicia und ihre Gäste streiften eilig ihre groben Arbeitsschürzen aus Sackleinen ab. Männerstimmen waren zu hören. Giles führte offenbar jemanden die Treppe herauf.
Ein kalter Windstoß fegte durch den Vorraum herein, als die Eingangstür geöffnet wurde. Dann erschien Giles in Begleitung von mehreren Männern, die bis über die Augen in dicke Mäntel gehüllt waren. »Alicia ... wir haben Besuch.«
Es gibt Momente im Leben, an die man sich später erinnert wie an ein Gemälde oder ein lebendes Bild. Genau einen solchen Moment stellte der Anblick des Fremden für Anne dar, als er seinen Mantel aufschlug und den blau-goldenen Umhang mit den Leoparden und Lilien enthüllte, denn tief in ihrem Inneren wusste sie, dass sich in diesem Augenblick ihr Leben von Grund auf änderte.
»Mistress Anne?« Der Mann sprach mit tiefer, schleppender Stimme. Er betrachtete kurz die drei Frauen vor ihm, ehe er entschlossen vortrat und sich an Anne wandte.
»Mein Herr, der König, hat mich beauftragt, Euch nach Westminster zu geleiten. Ich habe Befehl, unverzüglich aufzubrechen.«
Anne wusste nichts zu entgegnen. Angst und quälende Freude lösten einander ab.
»Ihr habt einen langen Ritt hinter Euch, Sir, und werdet Wärme und Stärkung nötig haben. Kommt mit mir in die Küche, wo Ihr beides haben könnt. Mistress Anne braucht ein wenig Zeit, um ihre Habseligkeiten zu packen und sich zu verabschieden«, erklärte Alicia an ihrer Stelle.
Alicia hatte sich schnell von dem Schrecken erholt, den ihr der Anblick des königlichen Gesandten und seiner Männer sowie die ungewöhnliche Nachricht versetzt hatten. Eilig führte sie die Männer hinaus und verschaffte Anne so etwas
Zeit. Schon seit Wochen hatte sie Anne Fragen stellen wollen, doch nun war die Gelegenheit für Erklärungen vorbei. Nun galt es, vor allem ihre Familie und ihren Hausstand zu schützen, nicht nur ihren geheimnisvollen Gast.
Deborah hatte die ganze Zeit geschwiegen. Sie saß am Feuer, drehte mit einschläfernder Gleichförmigkeit die Spindel und wickelte den Faden auf. Anne drehte sich zu ihr um.
»Deborah, du hast es gesehen, nicht wahr?«
»Nichts habe ich gesehen, obwohl ich es oft genug versucht habe«, antwortete Deborah grimmig.
Anne wagte nicht weiterzusprechen, denn in ihrem Kopf überschlugen sich die Bilder: angstverzerrte Gesichter, gezückte Schwerter, Blut - dann ein Schrei, der so echt klang, als befände sich der Schreiende neben ihr. Sie befand sich wieder auf dem Schlachtfeld ihrer Träume, ihrer Träume von Edward.
Sie zitterte. Der Valentinstag rückte bedrohlich näher, und sie musste zurück nach London, zurück zum König, zu einer Schlacht ganz anderer Art.
In der Stadt ging es zu wie in einem Bienenstock, und auch im Palast herrschte reges Treiben, als die Eskorte mit Anne und Deborah kurz vor dem Abendgebet eintraf. Die Frauen wurden durch einen in der Nähe des Flusses gelegenen Nebeneingang in den Palast geführt und durch das Labyrinth aus Gängen in eine kleine, karg möblierte Zimmerflucht gebracht. Eine stumme Dienerin brachte Holzeimer mit heißem Wasser und Leinentücher herbei, und der Anführer der
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