Der Eid der Heilerin
sich zu ihm um und sagte mit einer Stimme, in der ihr ganzer Zorn und das unterdrückte Entsetzen der vergangenen Tage lag: »Rührt mich nicht an!« Es war kaum mehr als ein Flüstern, aber die geballte Macht ihrer Worte traf beide wie ein Schlag. Evelyn schlug schluchzend die Hände vors Gesicht, und Doktor Moss ließ ergeben seine Hand sinken.
»Ich dachte, du bist tot«, brachte Evelyn schließlich heraus. »Du warst verschwunden - die Leute haben geredet... und die Königin ist so krank geworden. Und dann ist Dame Jehanne ...« Sie ließ die Hände sinken und sah Anne an, unfähig weiterzusprechen.
Die Angst in Annes Brust gefror zu einem eisigen Klumpen. »Wo ist sie? Wo ist Dame Jehanne?«
Doktor Moss antwortete ihr. »Man hat sie beschuldigt, das Kind der Königin verflucht zu haben. Sie sitzt im Tower.«
»Das Kind der Königin verflucht? Hexerei also? Ich verstehe nicht. Wer hat solche Gerüchte in die Welt gesetzt? Antwortet, Moss.« Annes Ton hatte nichts Drohendes an sich, doch ihr Blick jagte ihm Angst ein. Sie sprach so entschieden und selbstbewusst, als besäße sie eine Macht, über die sie unmöglich verfügen konnte. Es lag eine eindeutige Warnung darin. Sieh dich vor, wie du mit mir umgehst.
»Die Königin, sie war krank. Als wir aus Windsor zurückkamen, hatte es den Anschein, als ginge es dem Kind in ihrem Leib nicht gut. Und Doktor Moss sagte ... er sagte, jemand hätte das Kind vielleicht verflucht. Der Verdacht fiel auf Dame Jehanne.« Evelyn sah ängstlich zu Doktor Moss. »Und du warst nicht da. Ohne deine Mittel ließ sich die Königin nicht beruhigen, O Anne, es war so schrecklich. Eine Zeit lang schien es, als würden auch wir, Dorcas, Rose, Lily und ich, in den Tower gesteckt werden. Aber dann kehrte der König zurück ... er denkt nicht schlecht von uns, noch nicht. Aber ich warte der Königin nicht mehr auf. Der Oberkämmerer hat uns allen verschiedene Arbeiten im Palast zugeteilt. Ich bin jetzt in der Waschstube und froh darüber!«
Anne wandte sich an Doktor Moss. »Doktor Moss, ich habe eine Frage. Woher wusste der König, wo er nach mir suchen musste?«
Der Doktor, unfähig, ihr in die Augen zu sehen, starrte zu Boden. Zwei Herzschläge lang musterte Anne ihn ruhig, dann wandte sie sich an ihre Freundin. »Evelyn, ich habe viel mit Doktor Moss zu besprechen, und du solltest jetzt gehen ...Sage niemandem, dass du mich gesehen hast. Hast du mich verstanden?«
Annes Stimme hatte freundlich geklungen, doch die entsetzte Miene des Mädchens sprach Bände. Sie raffte mit einer
Hand ihre Röcke, aber bevor sie davonhuschte, küsste sie Annes Hände. »Ich bin deine Freundin, Anne. Und Jehannes Freundin.« Mit einem letzten furchtsamen Blick auf den Doktor, der unbewegt im Dunkeln stand, war Evelyn verschwunden.
In der nachfolgenden Stille und unter Annes unnachgiebigem Blick brach Moss der Schweiß aus. »Doktor Moss, ich glaube, Ihr müsst wieder gutmachen, was Ihr angerichtet habt«, sagte sie schließlich.
Der Doktor starrte in die Augen des Mädchens, und ein Schauer kroch über seinen Rücken. Ihr Blick kannte kein Erbarmen.
Hewlett-Packard
Kapitel 39
Es wurde eine lange, ereignisreiche Nacht für Doktor Moss. Sein Verhör durch Anne - anders konnte man es kaum bezeichnen - war fast unerträglich. Die Art, wie sie ihn aufgefordert hatte, seinen Verrat wieder gutzumachen, erinnerte ihn an die Zeit, als er als kleiner Junge von den Mönchen gezüchtigt worden war.
Merkwürdigerweise war er froh darüber gewesen, als ihr klar geworden war, was er getan hatte - dass er ihr Leben nach seinem Willen geformt hatte. Aber nachdem er eine Stunde lang ihrem Blick ausgesetzt war, drohten ihn Furcht und Selbsthass förmlich zu erdrücken.
Im Gegensatz zu den meisten anderen Menschen versuchte er, sich ein objektives Urteil über die Motive menschlichen Handelns zu bilden, und verstand daher sein eigenes Tun in aller Regel sehr gut. Doch während Annes kurzer Zeit bei Hof hatte er eine gewisse Zuneigung zu dem Mädchen entwickelt, die sich, auch wenn er es sich nicht eingestehen wollte, allmählich zu einer Bedrohung seiner mühsam erlangten Stellung an der Seite des Königs entwickelt hatte. Am Anfang hatte er Edward nur gefällig sein wollen, indem er Anne an den Hof geholt hatte. Doch als ihm auffiel, dass sie sich in den König verliebt hatte, nagte die Eifersucht an seinen Eingeweiden. Je besser er Anne kennen lernte, desto störender empfand er die quälende Spannung
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