Der Eid der Heilerin
größten Mörser und ließ ihn, ohne nachzudenken, wie eine Keule auf den Schädel des Alten niedersausen. Das anzügliche Grinsen wich ungläubigem Entsetzen, ehe er wie ein Stein auf die Fliesen kippte.
Zitternd setzte Anne den Mörser ab, als hätte sie sich die Hand verbrannt, aber sie durfte sich keine Pause gönnen. Sie sprang vom Stuhl, prüfte angeekelt, ob Corpus noch atmete, und stürzte zu der Bank neben dem Feuer, wo sie in fieberhafter Eile eine Hand voll vertrockneter, schwarzer Samenhülsen zerstampfte, die sie in einem Lederbeutel in ihrer Tasche aufbewahrte. Es dauerte länger als gedacht, aber die Samen mussten staubfein zerrieben werden, sonst entfalteten sie ihre Wirkung nicht schnell genug. Endlich war sie fertig. Nun brauchte sie nur noch Honig. Ihr fiel wieder ein, dass Deborah ihr gesagt hatte, das Pulver müsse gut mit Honig vermischt werden, bevor man kochendes Wasser hinzufüge, denn der Honig milderte den bitteren Geschmack der Medizin. Honig war sehr kostbar - wie alles Süße - und deshalb bestimmt irgendwo sicher weggeschlossen. Im Weinkeller? Oder in der Speisekammer?
Der Alte auf dem Boden gab ein Stöhnen von sich. Anne verbot sich jegliches Mitgefühl, dafür war jetzt keine Zeit. Sie nahm eine Schaufel, mit der sonst das Brot in den Ziegelofen geschoben wurde, und ging misstrauisch auf Corpus zu. Als sie vorsichtig mit der Schaufelkante seinen faltigen Hals berührte, öffnete er zuerst das eine, dann das andere Auge und sah sie böse an.
»Wenn du mir nicht sagst, was ich wissen will, bringe ich dich um. Verstehst du, was ich sage?« Sie sprach so ruhig und nüchtern, dass der alte Mann ihre Worte nicht in Zweifel zog. Er versuchte zu nicken, soweit es die Schaufel an seinem
Hals zuließ. »Wo bewahrt Maitre Gilles den Honig auf? Los, schnell!«
Der alte Mann verdrehte die Augen. Honig? Jetzt? Wollte dieses kleine Luder jetzt Honig stehlen? Anne funkelte ihn so böse an, dass er sich lieber nicht mit ihr anlegen wollte. Sie sah zwar noch sehr jung aus, war aber stärker und größer als er. Sie wollte Honig, nun gut, er würde dafür sorgen, dass sie dafür zahlte ... später. »Speisekammer. Er hat ihn in der Speisekammer.«
»Die ist bestimmt abgeschlossen. Wie komme ich hinein?«
Der Alte schnaubte. Er wusste, wo der Ersatzschlüssel war, doch als er seinen dröhnenden Schädel spürte, wollte er es ihr doch nicht verraten.
Anne biss die Zähne zusammen. Er wollte es nicht anders. Sie lehnte sich auf die Schaufel und drückte sie dem Alten in die Kehle, genau unter den Adamsapfel. Sie ging davon aus, dass er nicht stark genug war, sich gegen sie aufzulehnen. Und so war es auch. Hilflos ruderte er mit den Armen, was sie als Zeichen wertete, dass er ihr den Schlüssel zeigen wollte. Also verringerte sie den Druck, wohl wissend, dass das Wasser im Kessel bald verkocht sein würde. »Corpus, es ist wichtig. Wenn ich dich loslasse, musst du mir helfen - oder es kommt eine schlimme Zeit auf uns alle in diesem Haus zu.«
Corpus besaß kein Gewissen - ein langes Leben am unteren Ende der Gesellschaft hatte ihn gelehrt, kein Mitleid zu empfinden -, doch irgendetwas in ihrer Stimme berührte ihn. Widerwillig nickte er, als sie ihn losließ, und stolperte, missmutig seinen Hals massierend, zum Gewürzschrank hinüber.
»Dreh dich um.« Seine Stimme klang heiser, doch die Worte duldeten keinen Widerspruch. Er wollte nicht, dass das Weibsstück sah, wie gekonnt er den Schrank ohne Schlüssel öffnen konnte. Mit seinen Diebereien hatte er im Lauf der Jahre gute Geschäfte gemacht - Muskatnüsse und Safran erzielten neben Pfeffer die besten Preise, und so oft Maitre Gilles auch nachforschte, er hatte ihm nie die Diebstähle in die Schuhe schieben können.
Anne gehorchte, packte aber die Schaufel und sagte warnend: »Gib Acht, Corpus - ich bin schneller als du.« Das wusste er, außerdem war er neugierig. Er grunzte zufrieden, als die Tür aufsprang, und dort, an einem kleinen Haken, hing auch der Schlüssel zur Speisekammer. Sollte er sie damit unter Druck setzen, um herauszufinden, was sie im Schilde führte? In diesem Moment spürte er die Schaufel im Rücken, genau unterhalb seiner Nieren. Er seufzte. Nein, das würde bis später warten müssen.
Anne riss ihm den Schlüssel aus seinen runzeligen, schmutzigen Händen mit den schwarzen, eingerissenen Fingernägeln und spürte kurz einen Anflug von Mitleid. Auch wenn er ein bösartiger, alter Kauz war, sein kleiner, alter Körper
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