Der Eid der Heilerin
erzählte eine lange Geschichte von Hunger und Leid. Doch für Mitgefühl war jetzt keine Zeit. Sie stieß den Alten vor sich her und öffnete fieberhaft die Tür zur Speisekammer. Und wirklich, dort stand eine große, glasierte Tonschüssel mit einem ausgebleichten Holzrost. Auf dem Rost lag eine Honigwabe, deren kostbarer Inhalt durch die Ritzen tropfte.
Blitzschnell schöpfte sie etwas Honig in ein Schälchen ab, huschte hinaus und schloss den alten Mann in der Speisekammer ein. Sie würde Maitre Gilles später alles erklären. Aber jetzt konnte sie auf Corpus, der hinter ihr fluchte und sie Hure und Teufelsbrut schimpfte, keine Rücksicht nehmen. Sie musste sich beeilen.
Margaret und Jassy hatten mittlerweile alles versucht, um Aveline zu helfen. Abwechselnd hatten sie heiße und kalte Tücher auf den aufgetriebenen Bauch gelegt, um Aveline die Wehen zu erleichtern. Sie hatten ihr zur Kräftigung gute
Hammelbrühe eingeflößt, aber sie hatte alles wieder erbrochen. Außerdem hatten die Frauen Avelines Rücken und Bauch sanft massiert, aber nichts schien zu helfen. Mit Vater Bartolphs Erlaubnis hatten sie sogar Weihrauchkügelchen ins Feuer geworfen, um Gott, die Jungfrau Maria und ihre Mutter, die heilige Anna, zu Hilfe zu rufen.
Die Wehen kamen jetzt in kurzen Abständen, aber Jassy und Margaret sahen, dass das Kind sich noch nicht gesenkt hatte - der Geburtskanal hatte sich noch nicht so weit geöffnet, wie er sollte. Jassy warf Margaret einen hoffnungslosen Blick zu. Vielleicht sollte dieses unter so unseligen Umständen gezeugte, nun aber sehnlichst erwartete Kind nie geboren werden.
Dies war der Augenblick, als Margaret vollends verzweifelte. Vielleicht war es doch Gottes Wille, dass dieses Kind nicht das Licht der Welt erblickte. Wenn Mutter und Kind stürben, ginge Piers Wunsch in Erfüllung - dann wäre er frei von dieser Ehe, die er nie gewollt hatte. Aber eins stand fest: Sollten Mutter und Kind nicht überleben, würde sie Piers nicht erlauben, weiter unter ihrem Dach zu leben. Seine grausame Behandlung hatte seine Frau schrecklich geschwächt. Ihrem Körper fehlte die Kraft, das Kind zu gebären, und die gebrochenen Rippen, die, wie Margaret vermutete, das Ergebnis von Piers letzter Misshandlung waren, machten die Schmerzen unerträglich.
Als Anne die Tür aufstieß, schlug ihr der Geruch von Blut und Weihrauch entgegen. Sie verspürte einen Brechreiz, den sie jedoch eilig unterdrückte. »Mistress, ich habe es. Erlaubt mir, Aveline etwas davon zu geben. Es wird ihr helfen, das verspreche ich.«
»Gut«, erklärte Margaret grimmig, »wir haben alles versucht. Jetzt kann man das Kind nur noch herausschneiden.« Jassy und sie sahen einander an - sollten sie so etwas wirklich in Erwägung ziehen? Möglicherweise, aber das würde Avelines Tod bedeuten.
Aveline sah schon jetzt mehr tot als lebendig aus.
Kreideweiß lag sie auf dem Bett und stöhnte. Mit jeder Wehe bäumte sie sich auf, und ihre Augen stierten teilnahmslos ins Leere. Anne setzte sich neben sie und strich über ihre Augenbrauen, dann bat sie sie mit sanfter Stimme, den Mund zu öffnen. Aveline löste sich gerade lange genug aus ihrem Schmerzenswahn, um zu gehorchen.
Die umstehenden Frauen glaubten nicht, dass Annes Medizin noch etwas bewirken könnte. Aveline würde sterben müssen. Doch dann geschah etwas Merkwürdiges.
Nachdem Aveline an dem Topf genippt hatte, den Anne an ihre Lippen hielt, ging eine Veränderung mit ihrem gepeinigten Gesicht und ihrem Körper vor sich. Ihre starren Arme und Beine entspannten sich, und es hatte den Anschein, als fiele das Mädchen in Schlaf. Ihre Lider senkten sich über die starren Augäpfel, und als sie noch mehr von der Flüssigkeit trank, seufzte sie und atmete tief ein, dann noch einmal. Sie schlief tief, obwohl ihr Körper sich immer noch in Wehen zusammenzog. Es war ein Wunder - wie war es möglich, dass eine Frau schlief und gleichzeitig Wehen hatte?
»Mistress, ich brauche Eure Hilfe. Wir dürfen keine Zeit verlieren ...«, drängte Anne.
Jassy und Margaret mussten Avelines Beine spreizen, während Anne einen mit dem restlichen Honig getränkten Pfropfen in die Scheide des Mädchens schob. Es war nur noch eine winzige Menge der Tinktur übrig geblieben, und Anne betete, sie möge reichen, um ihren Zweck zu erfüllen. Wenn die heilige Anna ihnen beistand, würde das Schlafmittel auch den Gebärmutterhals entspannen, und das Kind könnte geboren werden.
In ihrem rauschartigen Schlaf
Weitere Kostenlose Bücher