Der Eid der Heilerin
stöhnte Aveline auf, als Anne die Honigpaste in ihren Leib einführte, wachte jedoch nicht auf. Einige der Frauen bekreuzigten sich verstohlen. Hieß es nicht in der Bibel, dass Frauen in Schmerzen gebären sollten, zur Strafe, weil sie Adam vom rechten Weg abgebracht hatten? Keine der Frauen hatte sich an Avelines Qualen ergötzt, aber war es nicht Gottes Wille? Wenn Mutter und Kind tatsächlich gerettet würden, wäre das wahrhaftig ein Wunder, aber wäre es nicht auch Blasphemie?
Wunder oder Gotteslästerung, die Medizin zeigte Wirkung. Bevor die Kerzen auch nur einen Fingerbreit heruntergebrannt waren, spürte Margaret, die Avelines Bauch massierte, wie das Kind mit der nächsten Wehe nach unten geschoben wurde. Und dann verkündete Jassy plötzlich, sie könne den Kopf des Säuglings spüren. Und nach einem weiteren Augenblick erschien das blaue Gesichtchen - die Augen geschlossen, die Haut wachsbleich -, noch ein sanftes Ziehen, dann glitten die Schultern heraus, und der Knabe war geboren. Ängstlich rieben ihn die Frauen mit Ol und Salz ab, denn er atmete nicht. Und mit einem Mal öffnete er den Mund und schrie. Er lebte, und seine Haut wurde rasch rosig, als er sein Missfallen darüber kundtat, so grob in die Welt befördert worden zu sein.
Als die Nachgeburt kam, wurde die Nabelschnur mit Hilfe eines scharfen Messers durchgetrennt, und Jassy eilte mit dem fest in Leinen und rotes Flanell gewickelten Säugling zum Kamin. Seine Mutter schlief friedlich, die Anspannung war aus ihrem Gesicht gewichen. Margaret umarmte Anne und gab ihr einen Kuss. Dann schickte sie sie hinaus, um Piers und Mathew zu benachrichtigen, dass das Kind nun doch heil zur Welt gekommen sei. Anne sollte auch Vater Bartolph suchen, damit der Knabe so bald wie möglich getauft werden konnte. Er machte zwar trotz der widrigen Umstände seiner Geburt einen kräftigen Eindruck, aber der Teu- fei musste so schnell wie möglich aus ihm vertrieben werden. Würde er ungetauft sterben, würde seine zarte Seele direkt zur Hölle fahren. Erst danach hatten sie Zeit, sich über die Zukunft Gedanken zu machen.
Der Maientag war vorüber, aber das Haus war noch immer halb verlassen. Einige ältere Dienstboten waren bereits zurück von den Freudenfeuern, die jüngeren hingegen würden erst nach Sonnenaufgang heimkehren. Es war jedes Jahr dasselbe, und die Strafpredigt von Vater Bartolph war ein geringer Preis für die schönen Erinnerungen, von denen sie bis zum nächsten Maifest zehren mussten.
Anne fand ihren Herrn in seiner Studierstube, wo er vorgab zu arbeiten, obwohl er schon seit Stunden den Versuch aufgegeben hatte, sich zu konzentrieren. Er hatte darum gebeten, auf dem Laufenden gehalten zu werden, und Margaret war einige Male hinausgeschlüpft, um ihn zu informieren. Ihr letzter Bericht hatte ihn in eine düstere Stimmung versetzt, denn er rechnete damit, dass Aveline und das Kind sterben würden.
Daher war er in großer Sorge, als Anne erschien. Ihr Klopfen riss ihn aus den schmerzlichen Grübeleien über all die Fehler, die er als Mann und als Vater begangen hatte - eine ungewohnte Tätigkeit für ihn. »Herein.«
»Master, das Kind ist da. Ein Knabe.«
»Ein Knabe ...« Er blickte sie mit sorgenvoller Miene an. Die Frage lag auf seinen Lippen, aber er fürchtete die Antwort. Annes zuversichtlicher, energischer Herr sah plötzlich alt und furchtsam aus. In diesem Augenblick begriff sie, dass auch Männer leiden konnten, etwas, was sie bislang nie verstanden hatte. Auch sie bedurften des Trostes, wenn die Sorgen übermächtig wurden - und heute konnte sie ihm diesen Trost spenden. Rasch trat sie neben ihn und berührte sanft seinen Arm. »Sir, das Kind lebt. Und Aveline auch.«
Tränen standen in seinen Augen, als er aufsah und flüchtig seine Hand auf die ihre legte. Und es dauerte einen Moment, bis er sich wieder an seine Rolle - die des Herrn von Blessing House - erinnerte. »Das Kind lebt also. Sie haben einen Sohn. Das ist wahrlich eine gute Nachricht.« Eilig erhob er sich und ging zu dem der Kapelle zugewandten Fenster. »Bitte übermittle Mistress Aveline meine herzlichen Glückwünsche. Sollte Lady Margaret entbehrlich sein, möge sie mir bitte zu einem Dankesgebet in die Kapelle folgen. Ich werde dort auf sie warten«, sagte er mit dem Rücken zu Anne.
Anne machte einen Knicks und ging davon, um Vater Bartolph zu suchen.
Mathew hörte die Tür ins Schloss fallen und holte tief Luft. Leben war geschenkt, der Tod in Schach
Weitere Kostenlose Bücher