Der Eid der Heilerin
war mit langen, schwarzen Eisenspitzen gespickt, und als Aveline die Stufen erreichte, ahnte Anne, was sie vorhatte.
»Neiiiin!«, schrie sie und rannte los, doch sie war nicht schnell genug.
Als Piers' Witwe sich hinabstürzte, auf die Spitzen des Mauerfirsts unter ihr, flammte ihr Unterkleid leuchtend rot auf.
Mühelos drangen die Eisenspitzen in den zerbrechlichen Körper und bohrten sich in ihr Herz. Ein einzelner, schrecklicher Schrei war alles, was Anne hörte, bevor sie nach unten sah. Von Aveline war nur noch ein armseliges Bündel blutgetränkten Stoffes übrig, das sanft in der leichten Brise wehte. Anne fiel auf die Knie und erbrach sich in die teuren, weißen Pimpernellrosen, die in einem Beet am oberen Ende der Treppe wuchsen. Dann wurde alles um sie herum schwarz.
Hewlett-Packard
Kapitel 16
Anne war nur einen kurzen Augenblick ohnmächtig, ehe sie bemerkte, wie sie hochgehoben wurde. Sie öffnete die Augen und sah, dass sie von den Stufen fortgetragen wurde, fort von dem schrecklichen Anblick von Avelines blutigem Körper.
Perkin Wye hatte sie gefunden. Er war gerade auf dem Weg zu den Lagerräumen im Keller gewesen, um die kürzlich erworbenen Getreidesäcke durchzuzählen, denn er wollte diesmal keine »Missverständnisse« in seiner Abrechnung riskieren. Geistesabwesend blickte er zum Lustgarten hinaus und sah Anne auf dem Weg oberhalb der Treppe liegen. Er eilte hinaus, um zu sehen, was passiert war. Kurz darauf kam Melly, das Kindermädchen, in den Garten. Als sie sah, wie er die leblose Anne vom Fluss herauftrug, begann sie zu schreien. Dann sah sie Aveline in den Eisenspitzen liegen, schrie laut um Hilfe und stürzte zum Haus zurück.
Von ihrem Geschrei aufgeschreckt, eilten Mathew Cuttifer und John Lambert in das gleißende Sonnenlicht.
»Genug!«, rief Mathew barsch. »Alle gehen wieder an die Arbeit. Sofort!« Seine Stimme war scharf wie ein Peitschenhieb und zeigte die gewünschte Wirkung. Die Dienstboten, die auf das Geschrei hin nach draußen gelaufen waren, huschten verängstigt ins Haus zurück.
Perkin hatte Anne inzwischen auf einer Steinbank abgelegt. Sie war sehr bleich, aber wieder ganz bei sich. Sie wagte nur nicht, in Richtung Treppe zu schauen, zu der Mauer mit Avelines aufgespießtem Körper.
Nun nahm Mathew die Sache in die Hand. »Perkin, du bringst Anne ins Haus und bittest Lady Margaret heraus. Schick auch Mistress Jassy her - sie soll Vater Bartolph mitbringen. Außerdem brauchen wir Seile und ein großes Tuch. Beeil dich. Anne, du wartest im Sonnenzimmer auf mich.«
Perkin verneigte sich schweigend und hob Anne hoch, als wäre sie nicht schwerer als ein Sack voll Stroh. Der Stallmeister war beeindruckt, wie wenig Wirbel das Mädchen machte, seit er es auf der Treppe gefunden hatte. Außerdem gefiel ihm ihr biegsamer, lieblich duftender, kleiner Körper, der um Brüste und Hüften unerwartet wohl gerundet war. Zufrieden machte er sich auf den Weg ins Haus, aber schon nach wenigen Schritten wurde Anne steif in seinen Armen und bestand darauf, dass er sie absetzte.
»Genug, Perkin. Ich kann selber gehen. Ich danke dir für deine Freundlichkeit, aber jetzt musst du mich herunterlassen.« Zunächst ignorierte er ihre Bitte, doch dann fügte er sich. Sie hatte eine Art, mit ihm zu sprechen, die ihn fast automatisch gehorchen ließ ...
Oberhalb der Anlegestelle lag Aveline und starrte mit leeren Augen zum Fluss hinunter. Der zarte Schleier ihres Hennin flatterte wie eine Fahne im Wind. Mathew und John Lambert sahen die Gestalt schweigend an und überlegten, wie der Körper des Mädchens am besten aus den Eisenspitzen befreit werden konnte.
Mathew schössen allerlei Gedanken durch den Kopf, als er die sterblichen Überreste seiner einst so schönen Schwiegertochter betrachtete. Ihm war noch nicht klar, dass der Tod dieser Frau ihn auch einer Stütze seines Lebens beraubt hatte: Sein Glaube an Gott war nicht länger ein Fels in der Brandung. Wie konnte der Schöpfer etwas so Grausiges zulassen? Und wenn dies nicht Gottes Werk war, war dann er, der diese Heirat erzwungen hatte, schuld an den schrecklichen Geschehnissen der vergangenen Monate? Schuld daran, dass sie nun zwei Tote zu begraben hatten, von denen einer sich selbst das Leben genommen hatte?
Vater Bartolph eilte herbei. Er war völlig außer Atem, denn Jassys wirre Nachrichten hatten ihn veranlasst, zum ersten Mal seit vielen Jahren in Laufschritt zu verfallen, und sein schwarzes Ornat war völlig
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