Der Eid der Heilerin
ihre Augen füllten sich mit Tränen. Ein heftiges Zupfen am Ärmel holte sie in die Gegenwart zurück. Jehanne gab ihr lautlos ein Zeichen, und Anne folgte ihr eilig. Die Mädchen hatten sich neben einer langen Bank aufgestellt, auf der sie während des Essens sitzen würden. Anne nahm eilig Platz, worauf Jane hämisch lachte, aber sofort wieder verstummte, als sie Jehannes Blick auffing.
»Nicht, Anne. Wir warten auf den König.« Anne wurde puterrot und stand schnell wieder auf. Gerade noch rechtzeitig, denn in diesem Augenblick ertönte das blecherne Schmettern der vier Trompeter, die in ihrer königlichen Uniform mit den Abzeichen von Anjou und Frankreich, dem Leoparden und der Lilie, in die Halle einmarschierten.
Sämtliche Geräusche verstummten; der ganze Hof erwartete des Eintreffen von Edward und Elizabeth. Auf ein weiteres Schmettern der Fanfaren hin sah Anne zum Podest hinauf. Der Anblick, der sich ihr dort bot, drohte sie innerlich zu verbrennen. Alles, was Deborah ihr geraten hatte, löste sich in nichts auf - sie sah nur noch Edward. Sie zwang sich, den Blick zu senken, kämpfte gegen ihr fiebriges Verlangen an und sank mit den anderen auf die Knie.
Edwards nachtblaues Samtwams klaffte vorn ein wenig auseinander und gab den Blick auf das weiße, golddurchwirkte
Futter frei. Auf seinen Schultern lag die aus verschlungenen Gliedern gefügte goldene Ordenskette, an der eine übergroße, unförmige Perle hing, die eigentümlicherweise einem weiblichen Oberkörper glich. Seine langen, muskulösen Beine steckten in pflaumenblauen Kniehosen, und unter seinem linken Knie prangte das Band des von Edward III. gegründeten Hosenbandordens. Auf seinem Kopf ruhte eine leichte, mit Topasen und Rubinen besetzte Krone.
Elizabeth Wydevilles Erscheinung übertraf noch die ihres Mannes. Obwohl sie von Natur aus eine hohe Stirn besaß, war ihr blonder Haaransatz zusätzlich gezupft worden, so dass sich ihre perlweiß schimmernde Stirn besonders hoch wölbte. Ihre zierliche Krone ruhte auf einem mit schwerem, rotem Samt unterlegten, silbergewirkten Haarnetz, das von Diamanten und Amethysten übersät war und ihr Haar vollständig bedeckte. Das Oberteil ihres silberdurchwirkten Gewands enthüllte ein gewagtes Dekollete, das durch einen Amethysten von der Größe eines Wachteleis mit ihrem hoch sitzenden Gürtel verbunden war und das makellose Weiß von Brüsten, Schultern und Hals vorteilhaft hervorhob. Das purpurrote, samtene Unterkleid ihres Gewands lief in einer langen Schleppe aus, die, als sie mit Edward durch die kniende Menge zur Ehrentafel schritt, von sechs Grafentöchtern getragen wurde.
Sie sieht aus wie die Himmelskönigin, dachte Anne tief beschämt. Und sie ist seine Frau.
»Ist sie nicht wunderschön?«, flüsterte Evelyn neben ihr. Anne nickte stumm.
»Nur schade, dass sie so bissig ist«, feixte Jane. »Sie wird ihn niemals halten können, er mag wärmeres Blut...«
Anne drehte sich erstaunt zu ihrer Gefahrtin um. Janes Bemerkung erschien ihr, als hätte sie ein Abbild der Mutter Gottes bespuckt.
Evelyn lächelte über Annes erstaunte Miene und tätschelte ihre Hand. »Hör einfach nicht hin. Sie glaubt, der König hätte ein Auge auf sie geworfen. Pure Verblendung!«
»Aber wie ...« Anne nahm allen Mut zusammen und wollte Evelyn fragen, wie Jane zu dieser Annahme kam, als sie von einem kräftigen Schlag auf die Schulter und einem wütenden Schnauben unterbrochen wurde.
»Das gehört mir! Und das auch!«
Jemand zog an ihrer Samthaube, und Anne hob instinktiv die Hand, um sie festzuhalten. Schon hatten sich einige Nadeln, mit denen die Haube an ihrem Haar festgesteckt war, gelöst.
»Dame Jehanne, sie trägt mein Kleid und meine Haube!« Es war Rose, die zu spät kam und noch unfreundlicher war als bei ihrer ersten Begegnung.
»Rose, du kommst zu spät! Hör sofort auf! Anne musste irgendetwas anziehen, und dein Kleid war als Einziges übrig. Und jetzt spute dich. Aber schnell!«, zischte Jehanne verärgert. »Euch Mädchen unter Kontrolle zu halten ist manchmal schlimmer als die Löwen des Königs im Tower zu bändigen.«
»Aber Madam«, widersprach Rose zornig. Sie war den Tränen nahe.
»Genug, Rose! Anne ist ein neues Mädchen und wird in den nächsten Tagen eingekleidet werden. Bis dahin wirst du die Güte besitzen, deine Sachen mit ihr zu teilen. Und jetzt Schluss. Knie nieder!«
Der messerscharfe Blick und der barsche Tonfall brachten die Aufsässige schließlich zum Schweigen. Sie
Weitere Kostenlose Bücher