Der Eid der Heilerin
schob sich neben Jane, die lautlos lachte, was Rose nur noch wütender machte. Sie warf Anne einen giftigen Blick zu, doch im selben Augenblick gab der Großkämmerer William Hastings ein Zeichen, worauf die Hofgesellschaft Platz nehmen durfte.
Augenblicklich schwärmten Diener durch den Saal und servierten den ersten Gang. Obwohl der Gesang der Chorknaben den Saal wie mit Weihrauchdüften durchzog, kam keine Unterhaltung auf. Anne hatte nicht gewusst, dass die Mahlzeiten bei Hof gewöhnlich schweigend eingenommen wurden.
Evelyn ahnte ihre Verwirrung. »Ha, das ist noch gar nichts. Manchmal, wenn die Königin ohne den König speist, müssen wir während des Essens alle knien und dürfen kein Wort sagen, nicht einmal die Herzoginnen und die Schwester des Königs, Lady Margaret. Heute dürfen wir wenigstens sitzen. Du wirst sehen, der König hält das nicht lange durch. Er mag es, wenn es lustig zugeht«, flüsterte sie.
Evelyn schien Recht zu behalten, denn kurz darauf sagte der König leise etwas zur Königin. Als diese mit einem Lächeln antwortete, wandte sich Lord Hastings, der zur Rechten des Königs saß, an Herzogin Jacquetta, die Königinmutter, und bald darauf wurden überall Gespräche aufgenommen. Das Festessen zog sich in die Länge. Schon zwei Stunden lang folgte ein Gang dem anderen, und Anne bemühte sich nach Kräften, nicht zum König hinzusehen, sondern die höfischen Sitten zu beobachten und dem Geschnatter der Mädchen zu lauschen.
»Dorcas, du bist an der Reihe mit der Leibwäsche der Königin. Das weißt du genau!«
»Beim Blut Gottes, das stimmt nicht. Ich bin die Seidenwäscherin Ihrer Majestät und kümmere mich nur um die Seide. Leibwäsche rühre ich nicht an!«
»Du wäscht, was ich dir sage, junge Frau. Seit wann bist du so eingebildet, dass die Leibwäsche der Königin nicht gut genug für dich ist?«
Jehanne maß Dorcas mit einem strengen Blick, worauf das Mädchen niedergeschlagen murmelte: »Das ist ungerecht.«
Evelyn zuckte die Achseln und schnitt eine dicke Scheibe von der Austernpastete ab. »Hier, Anne. Probier mal. Das ist köstlich. Du musst bei Kräften bleiben, denn wir müssen hart arbeiten, das kannst du mir glauben. Wir sind eben keine Hofdamen.«
»Anne, die Königin und ich erwarten von dir, dass du fleißig und gewissenhaft arbeitest. Der Königin zu dienen ist eine heilige Pflicht. Ich werde dich genau im Auge behalten«, ergänzte Dame Jehanne.
Die Worte klangen keineswegs unfreundlich, trotzdem war Anne beunruhigt. Lange Arbeitszeiten und vielfaltige Aufgaben fürchtete sie nicht, hatte sie doch eine gute Ausbildung genossen, aber sie hatte Angst, aus Unwissenheit das Falsche zu tun.
»Gewöhnt sie sich ein, Mistress?« Die ruhige Stimme von Doktor Moss riss Anne aus ihren Gedanken.
Das offene Lächeln des Mädchens erfüllte ihn einen Augenblick lang mit Scham. Er wusste, dass sie ihn nur deshalb so glücklich ansah, weil sie dankbar war, ein bekanntes Gesicht zu sehen. Aber, dachte er bei sich, würde sie jemals ihn oder einen anderen Mann mit aufrichtiger Liebe anblicken, nun, dann läge ihr die ganze Welt, oder zumindest sein Herr, zu Füßen.
»Sie wird sich gewiss bald eingefunden haben, Doktor Moss.« In Jehannes Stimme lag ein Anflug von Schärfe. Sie mochte den Doktor nicht, und das beruhte auf Gegenseitigkeit. Für sie war er ein Mann, der zu schnell aufgestiegen und für seine Position zu gut gekleidet war, ein Mann von zweifelhaftem Charakter, trotz seiner würdevollen Art und seines freundlichen Blicks. Und sie war in seinen Augen eine alte Frau mit scharfen Gesichtszügen, die ihr drahtiges, graues Haar unter einer nonnenhaften Haube verbarg und viel zu viel über den Hof und seine Mitglieder wusste. Sie hatten beide ihren Einflussbereich, der Unterschied zwischen ihnen aber bestand darin, dass er noch mehr wollte. Viel mehr.
Bei Hof hieß es, Dame Jehanne sei die Vertraute von Henry VI. und seiner Frau, der Französin Margaret von An- jou, gewesen. Sie kannte die Geheimnisse zweier Könige und nun auch zweier Königinnen, denn nachdem Edward den Thron erobert hatte, war sie entgegen allen Brauchs bei Hof belassen worden, obwohl man viele Anhänger des Hauses Lancaster mitsamt ihrer Dienerschaft des Hofes verwiesen hatte. Doch nachdem Jehanne zunächst eine Zeit lang der Königsmutter Cicely, der Herzogin von York, gedient hatte, war sie der neuen Königin zugewiesen worden.
Bei genauerem Überlegen jedoch war dies vielleicht gar nicht so
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