Der Eid der Heilerin
plötzlich verunsichert, gewann aber schnell ihre Fassung wieder.
»Steh auf, Mädchen, vor mir brauchst du nicht zu knicksen. Sag mir, wie du heißt.«
Anne schluckte nervös. Alle schienen so unfreundlich zu sein. »Bitte, ich heiße Anne, Lady. Ich soll Kammerjungfer der Königin werden und hier nach Dame Jehanne fragen.«
Die alte Frau erwiderte nichts, sondern ging langsam um Anne herum, hob sogar ihr Gesicht ein wenig an, um es besser studieren zu können, ehe sie energisch den Kopf schüttelte, als wollte sie einen unerwünschten, verwirrenden Gedanken verscheuchen. Schließlich zog sie Anne am Handgelenk in die Stube.
»Nun gut. Komm herein, schnell. Ich bin Dame Jehanne. Wir haben dich schon vor einer Stunde erwartet. Es hat ziemlich lange gedauert, bis du von Blessing House herübergekommen bist. Zum Trödeln ist jetzt keine Zeit. Wo sollen wir dich nur hinstecken?«
In der Stube wimmelte es von Frauen, die sich ankleideten. Es roch streng nach Schweiß und nach verbrannten Haaren von den Brennscheren, denn das einzige, kleine Fenster war fest verschlossen. Zwischen den Kleidertruhen war kaum genug Platz für die fünf Strohlager der Mädchen, und nun sollte auch noch Anne hinzukommen.
»Hierhin«, befahl Dame Jehanne dem Soldaten, der Annes kleine Reisetruhe trug. Verlegen angesichts des Zimmers voller Frauen folgte ihr der hoch aufgeschossene Knabe.
»Flegel!«, fuhr ihn eines der Mädchen an und verzog wütend das Gesicht. Der Knabe war versehentlich auf ihren Kleidersaum getreten. Das Mädchen reichte ihm kaum bis zur Brust, doch ihre Augen glänzten beinahe schwarz im Halbdunkel des Zimmers und funkelten ihn böse an.
»Verzeihung.« Der Soldat setzte die Truhe ab und verzog sich, so schnell er konnte, doch zuvor steckte Anne ihm unerwartet noch eine Silbermünze für seine Dienste zu. Er errötete, lächelte sie an und war verschwunden.
»Also, Mädchen. Mädchen! Herhören!« Das Geplapper der Mädchen verstummte, als hätte eine Peitsche geknallt. »Das ist Anne, sie gehört jetzt zu uns und wird ebenfalls der Königin aufwarten. Sie wird hier in der Stube schlafen.« Allgemeines Stöhnen ertönte. »Nun, eine andere Möglichkeit gibt es nicht. Wir müssen eben Platz schaffen.«
»Aber wie?«, fragte jemand halb laut.
»Indem hier endlich aufgeräumt wird!« Dame Jehanne musterte das dunkeläugige Mädchen scharf. »Vor allem du, Jane. Deine Sachen liegen überall herum. Ich erwarte von euch, dass ihr Anne freundlich aufnehmt. Sie wird uns bei unserer Arbeit entlasten. Und nun kleidet euch fertig an. Bis zum Essen ist nicht mehr viel Zeit. Wenn ich wiederkomme, seid ihr alle anständig gekleidet und vorzeigbar - und das Zimmer ist aufgeräumt!« Dame Jehanne nickte ihrem neuen Schützling kurz zu und eilte geschäftig hinaus. Verloren stand Anne einen Augenblick da, ehe sich eines der Mädchen ihrer annahm. »Du heißt also Anne?« Sie nickte schüchtern. »Nun, Anne, so kannst du nicht auftreten.« Das Mädchen deutete auf das tintenschwarze Kleid, dass Anne nach Piers' Ermordung von Lady Margaret bekommen hatte. »Die Königin erwartet, dass wir in unseren offiziellen Kleidern erscheinen, es sei denn, es ist für irgendeine wichtige Persönlichkeit Trauer angeordnet worden. Wir werden dir etwas leihen müssen.«
»Das ist wirklich sehr freundlich.«
»Ich heiße Evelyn«, sagte das Mädchen und bahnte sich einen Weg zur gegenüberliegenden Wand, wo mehrere dunkelrote Kleider aufgehängt waren. »Und das sind Lily und Dorcas.« Ein Mädchen mit modisch ausgezupfter Stirn nickte ihr zu, und ihre Freundin, der sie beim Ankleiden half, tat es ihr nach. »Und das ist...«
»Jane.« Es klang fast wie eine Drohung. Die junge Frau mit den dunklen Augen, die den Knaben angeherrscht hatte, sorgte dafür, dass Anne sich ihren Namen gut einprägte.
»Genau, Jane. Gerade wollte ich dich vorstellen.«
Jane schnitt Evelyn eine Grimasse und kehrte ihr barsch den Rücken zu. Sie zerrieb einige Geranienblüten zwischen ihren Fingern und färbte sich damit die Lippen rot, dann betrachtete sie sich kritisch in einem kleinen, auf Hochglanz polierten Silbertablett.
Evelyn achtete nicht weiter auf Jane, sondern suchte nach einem passenden Kleid für Anne. »Wie wäre es mit dem hier? In der Länge scheint es zu passen.« Das war richtig, aber in der Weite war es eindeutig für eine wesentlich kräftigere Frau gedacht.
»Es gehört Rose. Das wird ihr nicht gefallen«, meinte Dorcas mit einem belustigten
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