Der einaeugige Henker
Er hängte seinen Rucksack an einen Haken und nickte ihr zu.
»Ich wollte mich mal wieder blicken lassen.«
»Das ist toll.«
»Dann freust du dich?«
»Ja.«
»War gar nicht so einfach, frei zu bekommen, mein Chef wollte mir noch eine halbe Nachtschicht aufbrummen. Dagegen habe ich mich gewehrt. Und auch gewonnen.«
»Okay, jetzt bist du hier.«
»Ja.« Er ließ sich in einen Sessel fallen. »Ich bleibe auch nicht lange. Ich will nur etwas entspannen. Draußen ist es mir zu hektisch. Die Leute rennen und rasen, als gäbe es morgen nichts mehr zu kaufen. Schrecklich, sag ich dir.«
»Weiß ich.«
»Und wie geht es dir?«
»Puh.« Sie holte tief Luft. »Auch ich habe in der letzten Zeit ein wenig Stress gehabt. Ich bin etwas kaputt.«
»Das sehe ich dir an.«
»Macht es dir was aus, wenn du hier wartest, während ich eine Dusche nehme?«
»Ganz und gar nicht.«
»Das ist nett.«
»Und wenn du jemanden brauchst, der dir den Rücken wäscht, sag Bescheid.«
»Nur den Rücken?«
»Keine Sorge, ich bin für alles bereit.«
»Ja, das glaube ich.« Reni verließ das Zimmer und ging in den Flur. Dort gab es noch die Tür, hinter der die Dusche mit der Toilette lag. Ein Fenster gab es nicht, der Abzug war mal in Ordnung und mal nicht, aber das Wasser war wenigstens heiß, und das brauchte sie jetzt. Heißes Wasser, um all den imaginären Schmutz abzuwaschen, der sie befleckt hatte. Sie hatte die Szene in der Hütte nicht vergessen, und sie würde sie auch nicht vergessen. Sie wusste auch, dass der Schock sie noch mehrmals überfallen würde und sie sicherlich Probleme mit der Bewältigung bekam.
Das heiße Wasser tat ihr gut. Es spülte viel weg, nicht aber die Bilder, die sich immer vor ihrem geistigen Auge aufbauten. Sie wollten einfach nicht verschwinden und kehrten ständig zurück.
Sie merkte nicht, dass sich das Wasser mit ihren Tränen mischte, und schließlich weinte sie hemmungslos.
Wie lange sie unter den Strahlen gestanden hatte, wusste sie nicht. Es wurde ihr irgendwann zu heiß, und sie drehte das Wasser ab, um nach dem Handtuch zu greifen.
Sie trocknete sich ab. Dabei dachte sie wieder an das Vergangene, stöhnte auf und war froh, dass ihr Besucher sie nicht sah. Überhaupt war von ihm nichts zu hören, sodass sie sich fragte, ob er überhaupt noch vorhanden war.
Reni wickelte sich in einen Morgenmantel ein und machte sich auf den Weg zum Wohnzimmer. Bevor sie es erreichte, hörte sie schon das typische Schnarchgeräusch.
Au je, da hatte es jemanden erwischt.
Sie konnte nicht anders und musste lächeln, als sie das Zimmer betrat.
Sören Pfeiffer saß nicht mehr im Sessel, er war leicht umgekippt und lag auf der Seite. Zum Glück wurde er von einer Lehne gestützt. Sein Mund stand offen, sodass die Schnarchlaute freie Bahn hatten.
Reni Long wusste nicht, wie sie sich verhalten sollte. Sören wecken oder sich einfach in den zweiten Sessel hocken und warten, bis er wieder zu sich kam?
Eigentlich war es ihr recht, dass er schlief. Auch sie hätte zu gern die Augen geschlossen. Das war zwar möglich, aber sie glaubte nicht daran, dass sie schlafen konnte. Zu viel war passiert, aber sie war wieder freigekommen, und das stand erst mal an der ersten Stelle.
Sie sagte nichts.
Sie saß nur da und war zu faul, sich zu bewegen. Dann verspürte sie einen großen Durst. Der Kühlschrank stand in diesem Zimmer, in dem sie auch schlief.
Sie holte eine Flasche Mineralwasser hervor, drehte am Verschluss und trank. Das Wasser tat ihr gut. Ihr tat alles gut, was nicht direkt mit ihren Problemen zu tun hatte. Und die waren nicht weniger geworden.
Immer wieder sah sie den einäugigen Henker. Sie glaubte dann, das Blut der Toten zu riechen, und sie spürte auch den Druck in ihrer Kehle.
Was würde noch passieren?
Sie glaubte nicht, dass alles vorbei war. Es würde weitergehen. Diese Gestalt lebte. Und sie konnte sich in Sphären bewegen, die für einen normalen Menschen nicht zu erreichen waren.
Ich muss da raus, hämmerte sie sich ein. Die drei Toten werden gefunden, das steht für mich fest, und dann wird die Polizei alles daransetzen, um den Mörder zu finden.
Sie war zwar nicht vorbestraft, aber man würde anhand der Spuren vielleicht auf sie kommen. Möglich war alles, und das bereitete ihr Sorgen.
Sie trank wieder einen Schluck. Allmählich verschwand die innere Hitze, es war besser, wenn sie jetzt versuchte, sich zu entspannen, aber das war nicht möglich.
Sie schloss die Augen. Zumindest
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