Der einaeugige Henker
den Versuch musste sie wagen. Sie hoffte, dass es wenigstens für eine Weile so gut laufen würde, dass sie mit sich zufrieden war.
Vielleicht auch eine Portion Schlaf finden, das wäre auch nicht schlecht, und tatsächlich fielen ihr die Augen zu …
***
Ich hatte den Versuch gestartet und musste damit rechnen, dass etwas passierte. Es war auch was passiert. Dass es jedoch so schnell und heftig sein würde, damit hätte ich nicht gerechnet. Irgendetwas musste ich da aufgescheucht haben.
Der Spiegel war nicht mehr der Spiegel. Seine Fläche hatte einen Trichter gebildet, der in die Tiefe reichte, der aber nichts in sich hinein sog, sondern etwas ausgestoßen hatte.
Der Henker war da.
Einäugig, kampfbereit, denn er hatte sein Schwert gezogen. Ich wusste nicht, ob ich es mit einer echten Gestalt zu tun hatte oder mit einer feinstofflichen.
Vielleicht vereinigte er beides in sich. Eine Antwort gab er mir nicht. Er stand noch immer als eine Drohkulisse in der Wohnung, aber er griff uns nicht an.
Den Grund wussten wir nicht.
Suko gab keinen Kommentar von sich. Ich dagegen schon und hoffte, die richtigen Worte zu finden. Aber ich kam nicht dazu, sie auszusprechen, denn jetzt sah ich, was tatsächlich passiert war.
Mein Kreuz hatte mich nicht im Stich gelassen. Es hatte so etwas wie einen Schutzschirm aufgebaut. Es stand zwischen uns und ihm, und er war wie eine helle Wand oder Mauer.
»Wer bist du?« Ich hatte die Frage loswerden müssen und hoffte auf eine Antwort.
Sie kam nicht. Der Kämpfer wollte nicht mit uns sprechen. Dafür bewegte er seine Waffe, aber sie wurde nicht direkt gegen uns eingesetzt.
Ich stand auf.
Das klappte gut. Er hatte nichts dagegen, und als ich stand, fühlte ich mich besser, denn ich wollte in etwa auf Augenhöhe mit ihm sein.
Ich ging noch näher an ihn heran und gab ihm eine gute Chance, die er nicht nutzte.
»Bist du ein Rächer?«, fragte ich ihn.
Er nickte.
Das sah ich als einen großen Vorteil an. Er hatte mich also doch verstanden.
Ich stellte die nächste Frage. »Bist du auch ein Henker?« Das musste sein, weil er auf mich den Eindruck machte, als wäre er noch viel, viel mehr.
Wieder nickte er.
Ich lächelte ihn an.
Und dann schlug er zu. Warum er das tat, wusste ich nicht. Er hatte die Arme nicht erst groß hochreißen müssen, das Zuschlagen gelang ihm aus dem Handgelenk.
Es wäre ihm auch gelungen, mich zu treffen, aber da gab es noch die Magie des Kreuzes, diese Wand, die aufgebaut worden war, die nur ein schwacher Silberhauch für mich war, die aber ausreichte, um die Klinge zu stoppen.
Er schlug – und traf nicht.
Das Schwert wurde zurückgeschleudert. Es riss seinen Arm mit in die Höhe, und ich hoffte, dass die Kraft des Kreuzes die Klinge zerstören würde, doch das geschah leider nicht.
Der Henker umfasste den Griff jetzt mit beiden Händen, und ich richtete mich auf einen neuen Angriff ein, aber der Killer hatte etwas anderes vor und zog sich zurück.
Er verschwand vor unseren Augen, aber er tauchte nicht wieder in den Spiegel ein. Dessen Fläche blieb, wie sie war. Glatt und auch unberührt.
Ich atmete tief durch. Neben mir sah ich Suko. Er machte zwar keinen verstörten Eindruck, war aber nicht weit davon entfernt.
»Was habe ich denn hier erleben müssen?«
»Weißt du es nicht?«
»So ist es.«
»Wir hatten Besuch.«
»Ja, der Killer oder Henker. Ich habe ihn auch gesehen. Eine imposante Erscheinung.«
»Stimmt.«
»Und weiter?«
Ich antwortete mit einer Frage. »Was hast du denn noch alles gesehen?«
Suko zog die Lippen in die Breite. »Das ist nicht viel gewesen. Ich sah ihn – nun ja, und dann bist du auch da gewesen und hast Fragen gestellt.«
»Habe ich. Doch ich erhielt keine Antworten, das ist ja die Tragik. Irgendjemand muss ihm dann erklärt haben, dass ich auch ein gutes Opfer bin. Er schlug dann zu.«
»Und was wehrte ihn ab?«
»Das Licht. Oder mein Kreuz.«
Mehr musste ich nicht sagen. Suko wusste, wozu mein Talisman fähig war.
»Dann hat das Kreuz uns beiden wohl das Leben gerettet.«
»Sieht so aus, Suko.«
Er dachte kurz nach und fragte dann: »Kannst du mir einen Grund nennen, warum er uns hat töten wollen?«
»Ich weiß es nicht. Wir passen wohl nicht in seinen Plan. Wir müssen zufällig hineingeraten sein und …«
»Zufällig, John?« Suko schüttelte den Kopf. »Das kann ich nicht glauben. Das ist kein Zufall gewesen. Ich würde es als Schicksal ansehen, aber nicht als Zufall. Der Pfarrer hat dir
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