Der einaeugige Henker
Alternative gab es nicht.
Ich legte das Kreuz nicht mitten auf die Spiegelfläche, sondern mehr an den Rand.
Und jetzt?
Es gab keine Reaktion.
Ich wartete ab und spürte dabei, dass sich mein Herzschlag leicht beschleunigt hatte.
Und dann passierte es. Alles ging blitzschnell. Der Spiegel öffnete sich. Zumindest sah es so aus, als würde alles ineinander fallen, aber das war eine Täuschung, denn aus dieser angeblichen Tiefe schoss die mächtige Gestalt des Henkers hervor …
***
Reni Long fuhr zum ersten Mal einen Jeep und wunderte sich, wie gut sie damit fertig wurde. Es schien die Angst zu sein, die ihr diese neuen Kräfte verlieh.
Sie hatte auch den Weg aus dem lichten Wald gefunden und fuhr jetzt über eine Straße, von der sie hoffte, dass sie sie zu einem Ort führte, an dem sie sich orientieren konnte. Irgendeine Kreuzung, von der aus die Straße in bestimmte Richtungen führte, wobei sie da natürlich an London dachte.
Weit war sie von der Stadt nicht weg, das wusste sie. Ihr war zudem bekannt, dass viele Straßen in den Moloch hineinführten, und als sie den Ort Seven Oaks erreichte, drang zum ersten Mal ein scharfes Lachen aus ihrem Mund.
Da sah sie den Hinweis auf den Motorway 26. Er gehörte zu den Teilen der Autobahn, die einen Kreis rund um London bildeten.
Das war gut.
Jetzt konnte nicht mehr viel schiefgehen. Reni hatte auch noch das Glück, mit einem zur Hälfte gefüllten Tank zu fahren, was auch einiges wert war. So brauchte sie sich keine Gedanken um das Benzin zu machen.
Und dann freute sie sich darüber, dass sie auch Hunger verspürte. Verhungern konnte hier niemand, dazu gab es einfach zu viele Fast-Food-Restaurants.
Sie fuhr eines an, ging aber nicht hinein, sondern ließ sich das Essen und den Kaffee in den Wagen reichen. Dann lenkte sie den Jeep in eine freie Parktasche, blieb dort stehen und kümmerte sich um ihr Essen.
Es war ein chinesisches Gericht. Nudeln, Gemüse und kleine Hühnerstücke. Schnell zubereitet, schnell aufgewärmt und auch nicht zu scharf. Man konnte es gut essen.
Reni schlang es hinein. Sie schluckte die Nudeln, das Gemüse und spülte mit Kaffee nach. Manchmal lachte sie auch auf, immer dann, wenn Gedanken und Erinnerungen durch ihren Kopf huschten. Ja, sie war mit dem Leben davongekommen, aber sie hatte auch das Grauen gesehen. Und diese Bilder kehrten immer wieder zurück, blieben einen Moment und verschwanden dann wieder.
Sie stöhnte auf. Aber sie riss sich zusammen, und sie aß alles auf. Danach trank sie den Kaffee, der ihr gut tat. Als beides verputzt war, beugte sie sich nach vorn und lachte laut auf. Sie hatte es geschafft. Sie war auf dem Weg in die Normalität. Sie hatte etwas gegessen und getrunken, und wenn sie auf ihre Handflächen schaute, dann zitterten die Finger kaum noch.
»Ich schaffe es!«, keuchte sie. »Verdammt, ich schaffe es. Ich werde damit fertig. Ich werde vergessen können. Ich will diese Toten nicht mehr sehen …«
Und dann kam es doch wieder über sie. Grauenhaft klar standen die Bilder vor ihren Augen, und sie fühlte auch wieder, was die Hundesöhne mit ihr angestellt hatten.
Sie war vergewaltigt worden. Gnadenlos.
Als sie daran dachte, zog sich in ihrem Körper einiges zusammen. Sie musste jammern. Sie fühlte sich beschmutzt und stöhnte dabei laut auf. Tränen stiegen in ihre Augen und ihr Kopf sank nach vorn. So tief, dass ihr Kinn beinahe die Brust berührte.
Jemand klopfte gegen das Fenster. Reni zuckte zusammen und blickte durch die Scheibe.
Sie schaute in das besorgte Gesicht eines ihr fremden Mannes, der eine Frage formulierte, die sie sogar von seinen Lippen ablesen konnte.
»Geht es Ihnen gut?«
Sie nickte dem Mann zu.
Der lächelte und zog sich zurück.
Reni atmete auf. Das war noch mal gut gegangen. Sie hatte keine Lust, aufzufallen. Sie wollte nach Hause, sich dort in ihre kleine Wohnung einschließen und diese erst mal nicht verlassen.
Reni startete den Wagen. Sie konnte vorwärts aus der Lücke fahren und fädelte sich wenig später in den normalen Verkehr ein. London lag vor ihr. Sie sah schon das Lichtermeer, das in der Vorweihnachtszeit noch heller strahlte als sonst. Sie hatte das Gefühl, aus dem Dunkel zu kommen und ins Helle hinein zu fahren.
Es tat ihr gut.
Sie lachte.
Und ab jetzt war sie sicher, dass sie es schaffen konnte. Sie wollte in ihre Wohnung, sie wollte sich dort verstecken, und es war ihr egal, wie es weitergehen würde.
Drei Tote!
Immer wieder kam ihr diese Zahl
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