Der Einbruch des Meeres
Kapitän und der Ingenieur wechselten einen Blick, der ihre innersten Gedanken verriet. Leider war es ja zu befürchten, daß der Tuareghäuptling Wiedervergeltung zu üben gedachte, daß er zur Abschreckung eine öffentliche Hinrichtung plante, und daß die verschiedenen Stämme aus dem Henguiz nur zu diesem Zwecke zusammengerufen worden waren. Und wie konnte man anderseits noch Hoffnung auf eine Hilfe von außen, von Biskra oder von Goleah, bewahren, da der Leutnant Vilette ja nicht wußte, wohin die Gefangenen geschleppt worden und in die Hände welches Eingebornenstammes sie gefallen waren.
Vor dem Abstieg vom Minaret hatten der Kapitän Hardigan und der Brigadier Pistache noch einmal Umschau gehalten über das ganze Gebiet des Melrir, das sich vor ihren Augen ausdehnte. Alles öde und leer im Norden wie im Süden, ebenso verlassen der Teil, der im Osten und im Westen von beiden Seiten das Henguiz umschloß, das nach der Unterwassersetzung des Schotts zu einer Insel werden sollte. Auf der weiten Bodensenke war nirgends eine Karawane zu erblicken. Und was die Abteilung des Leutnants Vilette betraf, was hatten die wenigen Mann, angenommen, daß seine Nachsuchungen ihn nach Zenfig geführt hätten, wohl ausrichten können gegen die ziemlich bevölkerte Ortschaft?
Hier blieb also nichts andres übrig, als die Entwicklung der Dinge – doch mit welcher Besorgnis – abzuwarten. Von einer Minute zur andern konnte sich ja die Tür des Bordj öffnen und Hadjar mit den Seinigen eintreten. Wäre es dann möglich, ihnen Widerstand zu leisten, wenn der Tuareghäuptling sie nach dem offnen Platze zur Hinrichtung abführen ließ? Und was heute nicht geschah, konnte das nicht morgen geschehen?
Der Tag verlief jedoch, ohne daß eine Änderung der Sachlage eintrat. Der am Morgen im Hofe niedergelegte Proviant genügte den Gefangenen, und als der Abend kam, streckten sie sich auf den Alfalagerstätten in dem Raume aus, wo sie die vergangenen Nächte zugebracht hatten.
Kaum war aber eine halbe Stunde verflossen, als sich von draußen ein Geräussch vernehmen ließ. Sollten vielleicht einige Targui als Wächter um den Bordj patrouillieren, oder sollte sich die Pforte öffnen und Hadjar die Unglücklichen zum letzten Gange abholen lassen?
Der Brigadier war sofort aufgesprungen und lauschte, an die Tür gelehnt, dem unerwarteten Geräusche. Ein Laut von Tritten schlug ihm aber nicht ans Ohr, sondern eine Art dumpfen und kläglichen Gekläffs. Offenbar lief ein Hund an der äußern Seite des Sour umher.
»Coupe-à-Coeur!.. Das ist Coupe-à-Coeur!« rief Pistache.
Er duckte sich bis zur Türschwelle nieder.
»Coupe-à-Coeur!… Coupe-à-Coeur! wiederholte er. Bist du es, mein treuer Hund?«
Das Tier erkannte die Stimme des Brigadiers, wie es die seines Herrn Nicol erkannt hätte, und antwortete durch erneutes, halb verhaltenes Bellen.
»Ja ja… wir sind es… Coupe-à-Coeur… wir sind hier! rief Pistache ihm zu. Ach, wenn du doch den Wachtmeister aufspüren könntest, und seinen alten Bruder, deinen Freund Va d’l’avant… Va d’l’avant, verstehst du, und sie unterrichten könntest, daß wir in dieser Hütte eingesperrt sind!«
Kapitän Hardigan und die übrigen hatten sich der Tür genähert. O, wenn sie sich hätten des Hundes bedienen können, mit ihren Gefährten in Verbindung zu treten! Nur ein Zettel, an seinem Halsband befestigt! Wer weiß, ob das treue Tier dann, durch seinen Instinkt geleitet, den Leutnant Vilette nicht hätte finden können. Erfuhr dieser aber, wo sich seine Gefährten befanden, so setzte er gewiß alles daran, sie zu befreien.
Auf keinen Fall durfte Coupe-à-Coeur aber auf dem Gange vor der Türe des Bordj überrascht werden. Deshalb rief der Brigadier ihm zu:
»Geh, mein guter Hund… fort von hier.«
Coupe-à-Coeur verstand ihn und trottete mit einem letzten Abschiedsgebell davon. Am nächsten Morgen wurden, wie am Tage vorher, zu früher Stunde Lebensmittel in den Hof geschafft, und alles deutete darauf hin, daß die Lage der Gefangenen auch heute noch keine Änderung erfahren würde.
In der folgenden Nacht erschien der Hund nicht wieder, wenigstens hörte Pistache, der immer auf der Lauer lag, von ihm nichts. Da fragte er sich, ob das arme Tier nicht vielleicht einen tödlichen Schlag erhalten habe, und ob er es nie wiedersehen sollte.
Die beiden nächstfolgenden Tage wurden durch keinen Zwischenfall unterbrochen, und auch im Orte blieb es still wie vorher.
Erst am 24., gegen elf
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