Der Eindringling: Roman (edition suhrkamp) (German Edition)
Sozialwissenschaften und Geschichte versuchte, hatte er einmal zu erklären versucht, worum es ging: dass Fil über eine freundliche Oberflächlichkeit nie hinausgegangen, da und doch nie da gewesen war, ständig tausend andere Sachen im Kopf gehabt hatte, offensichtlich politisch sehr aktiv gewesen war; Daniel hatte erzählt, dass er bis heute nicht einmal wirklich wusste, was der Vater in all den Jahren eigentlich gemacht hatte. Aber Steffen, der aus einer Reihenhausfamilie stammte, Vater Angestellter, Mutter Hausfrau, ein jüngerer Bruder, hatte das Problem nicht nachvollziehen können: Sei froh, dass der nicht da war. Es gibt nichts Schlimmeres, als alles über seine Eltern zu wissen.
Und so kam es, dass Daniel, als er von Fils Krankheit hörte, nicht gleich zum Vater fuhr, sondern weiter seine Uni-Seminare besuchte – Neuere französische Literatur, Didaktik II , Politische Geschichte der Weimarer Republik –, auch sonst am gewohnten Tagesablauf festhielt, Einkauf, eine Runde Joggen, den FarmVille-Bauernhof bei Facebook pflegen, ein paar Stunden mit Steffen in die Lamola-Bar, bis er schließlich beinahe zufällig von Fils Nachbarn erfuhr, von einigen Kahlrasierten, kahlrasiert, aber nicht rechts-, sondern linksradikal, an deren Tür ein Plakat verkündete, dass man anderswo richtig zu streiken wisse, dass vermummte Streikende anderswo Gummireifen in Brand setzten und mit Steinschleudern auf Polizisten schössen, dass der Vater im Krankenhaus liege, vor zwei Tagen eingeliefert worden sei, wegen einer Fibrose. Daniel erschrak, ihm war hinterher allerdings nicht ganz klar, ob wegen der Diagnose oder weil ihn die Nachricht für einen Augenblick unberührt ließ, und ging dann zu Fuß die vier Kilometer von Fils Wohnung zurück in die Eldenaer Straße, in den Norden Friedrichshains, über den Fluss, die backsteinfarbene Oberbaumbrücke, versuchte nicht nachzudenken, ließ den Blick schweifen, Nieselregenwolken und ein rosa leuchtender Industriehimmelstreifen Richtung Alexanderplatz, und dachte, dass das typisch für ihr Verhältnis war, dass auf jede Bewegung aufeinander zu sofort eine Abstoßung folgte.
Sie setzen sich hinein, weil es draußen im Biergarten zu kühl ist, die Tische von Regentropfen überzogen sind, der Wind immer wieder Wasser von den umstehenden Bäumen schüttelt, weil Daniel die Biergartenbänke zu feucht sind, er sich Sorgen um Fil macht, seinen Vater. Kaum haben sie Platz genommen, bestellt der sich ein Bier.
Das ist was Besonderes, behauptet Fil. Das kommt aus einer Dorfbrauerei.
Daniel kann nicht erkennen, was daran besonders sein soll, Dorfbrauerei , vor allem jedoch versteht er nicht, warum jemand, der krank ist, todkrank, gegen Mittag Alkohol trinkt.
Einen Darjeeling, sagt er.
Die Kellnerin blickt Daniel fragend an; Fil grinst still, aber vielsagend.
Einen Tee, einen schwarzen Tee, schiebt Daniel hinterher.
Komm, wir trinken mal zusammen ein Bier, schlägt der Vater vor.
Damit sie locker werden, denkt Daniel, lockerer, so etwas wie Komplizenschaft aufkommt, sie sich kumpelhaft auf die Schulter klopfen können. Und obwohl Daniel keine Lust hat, genau darauf keine Lust hat, hebt er die Hand und bestellt sich auch ein Bier, fränkisches Dorfbier .
Sich zusammen einen ansaufen.
Machen alle Väter mit ihren Söhnen, denkt Daniel genervt.
Die Kellnerin stellt die Biere auf den Tisch, und unvermittelt beginnt Fil, das Glas kurz ans andere getickt, von einer Reise zu erzählen, einer Fahrt durch die Wüste. Er erwähnt Reisestationen, spricht aber nicht, wie Daniel es erwartet hätte, von skurrilen Begegnungen, elegant gelösten Problemen, eigenwilligen Personen, sondern nur von Bildern: der steten, stillen, übermächtigen Bewegung des Sandes; davon, wie sich Dünen kaum merklich und doch unübersehbar vorwärtsschoben, von Rillen, die der Sand bildete, immer wieder neu formte, wenn man eine Handvoll herausgriff und in die Luft warf, vom Pfeifen, das der Wind erzeugte, wenn er über die Dünen strich und Körner über Körner rollten:mahlender Quarz. Fil redet von Farben, den Textilfarben der Kleider oder eines einzigen Kleids, einem Indigoblau, Scharlachrot, Alabasterweiß; dem Auge eines Tieres, einem glasigen Auge, in das man hineinschauen konnte, aus dem jedoch nichts Lebendes herauszublicken schien.
Sie trinken ein zweites Bier, ein drittes, und schließlich, es ist drei Uhr nachmittags, hat es den Anschein, als wäre alles zu hell, ist der graue, wolkenverhangene
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