Der Eindringling: Roman (edition suhrkamp) (German Edition)
nach Berlin gezogen ist. Öfter: einmal in vierzehn Tagen. Gehen ins Kino, reden über einen Film, über Ausflugsziele in der Umgebung, Fahrradtouren, die man dann doch nicht macht, weil man nichts Festes vereinbart, nichts Rechtes miteinander anzufangen weiß, das Wetter zu schlecht ist. Der Vater hat Daniel ein bisschen bei der Renovierung der Wohnung geholfen, die in Friedrichshain liegt und ziemlich heruntergekommen war, und Daniel, der Sohn, hat sich darüber gewundert, dass sich der Vater handwerklich als so geschickt erwies, bei der Renovierung so viele Aufgaben in die Hand nahm, dann aber nicht weiter nach dem Ursprung dieser Kenntnisse gefragt. Vielleicht weil Daniel keine Anekdoten von besetzten Häusern hören wollte, in deren Hinterhöfen Zugbrücken gespannt waren, von zusammengeschraubten Schiffen, mit denen Freunde seit zwanzig Jahren über den Atlantik kreuzen, von als Barrikaden auf Gleisen festgeschweißten Straßenbahnen, von der Schule des Lebens.
Dabei ist sich Daniel nicht einmal sicher, ob Fil tatsächlich Anekdoten erzählt oder eine unbekannte, eher harmlose Seite seiner Biographie preisgegeben hätte: ein paar Monate in einer Baufirma, ein mit öffentlichen Geldern unterstütztes Selbsthilfeprojekt. Daniel weiß nicht einmal genau, wovon Fil all die Jahre eigentlich gelebt hat.
Als Daniel nach Berlin zog, sagte der Vater: Korrekt, dann sehen wir uns regelmäßiger. Als sei das schon lange sein sehnlichster Wunsch, als wäre es Daniels Entscheidung gewesen, in Göttingen, in der sauberen, vierstöckigen Sozialbausiedlung aufzuwachsen, bei Conny, der Mutter , und Gerd, ihrem Freund, in einfachen, aber geordneten Verhältnissen . Und obwohl Fil ihm angeboten hatte, die ersten Wochen nach dem Umzug bei ihm zu wohnen, war Daniel lieber zu einer entfernten Freundin der Mutter gezogen, hatte sich eine Matratze ins berüchtigte Berliner Zimmer gelegt, das täglich neuen Anlass bot, die Immobilien-Webseiten zu durchforsten, war froh gewesen, nicht auf den Vater angewiesen zu sein, nicht wieder in einem vollgekritzelten Haus übernachten zu müssen, in dessen Aufgang es streng nach Hundepisse roch und alles erlaubt war – eine dunkle Erinnerung, eine Erinnerung aus der Kindheit. Wie sich später herausstellen sollte, war auch das Mietshaus, in dem Daniel schließlich einzog, vollgetaggt, nur statt nach Hundepisse stank es dort nach Männerurin, den sich die Betrunkenen jede Nacht im Hauseingang abschlugen. Gegenüber einer Freundin, einer Kommilitonin, auf die Daniel ein Auge geworfen hatte, sie jedoch anscheinend nicht auf ihn, und der er von den lange zurückliegenden Besuchen beim Vater erzählte, brachte er es lachend auf die Formel: Das Schicksal holt einen eben immer wieder ein, worauf auch sie lachte; erst dann fiel ihm auf, dass Hundepisse und Männerurin als Beschreibung seiner Existenz nicht unbedingt das beste Licht auf ihn warfen. Aber vielleicht war das besser so. Die Frau studierte im Hauptfach Jura und hätte wenig Zeit gehabt.
Doch dann, als Daniel richtig in der Stadt angekommen war, sich mit der neuen Wohnung, Friedrichshain, dem nach Männerurin stinkenden Hauseingang angefreundet hatte und überlegte, dass nun wirklich die Zeit gekommen sein könnte, um Fil kennenzulernen, neu kennenzulernen, von ihm ernst genommen zu werden, brach die Krankheit über den Vater herein. Fil, der seit Jahren auffällig hustete, seine Beschwerden aber stets mit einem Hinweis auf die Stadt,den Berliner Feinstaub, eine bewegte Jugend abgetan hatte, wurde eine schwere Lungenkrankheit diagnostiziert, und für den Konflikt, den auszutragen Daniel sich vorgenommen hatte, was war in deinem Leben so wichtig, dass ich nicht wichtig war , warum haben wir uns nicht mehr gesehen, seit ich neun war? , schien wieder nicht der richtige Augenblick zu sein. Mehr noch als Angst oder Trauer spürte Daniel so etwas wie Empörung, dass er wieder nicht die Gelegenheit fand, um Fil mit der gemeinsamen, aber nicht geteilten Vergangenheit zu konfrontieren – mit der Frage, was das sollte, diese unvermittelt abgebrochene Ferienvaterschaft, die Leichtigkeit, mit der Fil ihm all die Jahre entwischt war.
Dem Freund, mit dem Daniel in Friedrichshain zusammenzog und den er noch aus Göttingen kannte, Steffen, wie Daniel hatte er eigentlich Journalist werden wollen, aber irgendwie wussten sie nicht, wie sie es angehen sollten, weswegen sich Daniel schließlich auf Lehramt eingeschrieben hatte, Steffen es mit
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