Der Eindringling: Roman (edition suhrkamp) (German Edition)
Daniel doch eine eigene Familie. Erst mit 21, er machte Zivildienst in Hamburg, wohnte allein, hatte Zeit nachzudenken, tauchte die Frage nach dem Vater plötzlich wieder auf. Es gab keinen richtigen Anlass, keinen benennbaren Auslöser, er hatte nur einfach plötzlich das Gefühl, etwas falsch zu machen, zu verkopft zu leben, wie es ihm die Freundin vorgeworfen hatte, zu kontrolliert, und dachte plötzlich, der Vater sei in dieser Hinsicht ganz anders, verwegen, leidenschaftlich. Daniel hatte sich auf Fil nicht verlassen können, der Vater war nicht da gewesen, hatte sich wie ein Idiot verhalten, aber was sein eigenes Leben anging, strahlte Fil Leichtigkeit aus, Entschlossenheit, und so hatte Daniel auf einmal den Wunsch verspürt, Fil öfter zu sehen, Zeit mit ihm zu verbringen, sich etwas von ihm abzuschauen und von ihm vielleicht sogar um Entschuldigung gebeten zu werden. Das war sein größter Wunsch: dass derVater ihm erklärte, wie sehr es ihm leidtue, dass er einsähe, wie dumm er sich Daniel gegenüber verhalten habe.
Dass er nach drei Semestern schließlich nach Berlin zog, hatte auch damit zu tun. Conny, die von der Entscheidung nicht besonders begeistert gewesen war, gegenüber Berlin immer noch Groll hegte, einer Stadt, in der man sich auf niemanden verlassen konnte, wie sie sagte, vielleicht auch Daniels heimlichen Wunsch erahnte, beschränkte sich auf einige subtile Kommentare, subtil oder was sie dafür hielt, die ihn bei seinen Umzugsplänen nur noch zusätzlich bestärkten. Ihr Verhältnis, das Verhältnis zwischen Daniel und der Mutter, war schon länger etwas distanziert, schon länger von Unverständnis geprägt, was sie für den Ausdruck eines normalen Abnabelungsprozesses zu halten schien, und so ging er schließlich am Ende des Wintersemesters nach Berlin.
Daniel hat Glück: Beule sammelt nur ein paar Software- CD s ein, die er Fil geliehen hat, erklärt den Gasherd und verabschiedet sich dann. Als die Tür ins Schloss fällt, ist Daniel erleichtert; setzt er sich in einen der großen Sessel in Fils Wohnzimmer, starrt auf die Wände – die vertraut-unbekannten vier Wände.
Vertraut : Schwarzweißfotografien, die er kennt, historische Aufnahmen, die er vage zuordnen zu können glaubt, Möbelstücke, die ihm schon vor fünfzehn Jahren in der Wohnung des Vaters begegnet sein müssen, die so abgeschabt aussehen, als hätten sie mehrere Jahrzehnte Gebrauch hinter sich; aber vor allem eine kleine Postkarte, über deren Bedeutung Daniel als Kind oft rätselte: zwei Männer in olivgrünen Uniformen, bärtig, Zigarre rauchend, beim Golfspielen. Alser klein war, fragte Daniel sich nicht, wer die Männer auf dem Foto waren, von denen mindestens einer schon damals als Pop-Ikone galt, Daniels wichtigste Frage lautete, was die Männer auf dem Schwarzweißfoto, das aus den sechziger Jahren stammte, eigentlich trieben. Dass es sich um einen Sport handelte, war auf den ersten Blick nicht zu erkennen. Golf : Kannte man als Kind Anfang der neunziger Jahre in Deutschland diesen Sport nicht oder erfuhr Daniel in der von Conny abgeschirmten Göttinger Sozialbauwelt nur einfach nichts davon?
Unbekannt : Die Zimmer sind zu aufgeräumt, die Wände zu weiß, die Einrichtung einem Ikea-Katalog zu ähnlich. Und wieder fragt sich Daniel, von was der Vater eigentlich gelebt, ob er doch noch so etwas wie einen richtigen Beruf erlernt hat, denn von ein paar Jobs kann er diese Wohnung kaum bezahlt haben; für einen Geringverdiener hat Fil eine zu schöne, zu geräumige Wohnung. Daniels Blick fällt auf den Küchenschrank, ein abgezogenes Holzmöbel mit Vitrine, in der sechs identische Weingläser stehen, Designergläser, poliert, glänzend, ohne jede Schramme, nicht wirklich luxuriös, aber doch von einer Qualität, die er beim Vater nicht erwartet hätte, und Daniel erinnert sich, was Elfi, die Mutter seiner ersten Freundin, einmal gesagt hat, dass es nämlich die Frauen seien, die »diese Details« in einen Haushalt einbrächten, »eine Spur von Geschmack«, und Daniel fragt sich, wie viele Ex-Freundinnen des Vaters es wohl gibt, von denen er nichts weiß. Zwei Dutzend oder vielleicht auch nur eine?
Er könnte kaum sagen, was kränkender wäre – wenn der Vater ein Frauenheld gewesen wäre und jene Zeit, die er für den eigenen Sohn nicht aufbrachte, in zwei Dutzend Beziehungen investiert oder wenn es da nur eine einzige Frau gegeben hätte, die offensichtlich wichtiger war als Conny, aber ihm, dem Sohn, nicht
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