Der Eindringling: Roman (edition suhrkamp) (German Edition)
Boxen singt, periodisch knackend: You miss my soul, I lost my heart.
Als er wieder zu Hause ankommt, zu Hause in Friedrichshain ankommt, sitzen die Freunde, sitzen Fred, Faruk und Steffen vor dem Computer und spielen World of Warcraft . Auf dem Küchentisch liegen zerdrückte Getränkedosen, leere, mit Servietten übersäte Pizza-Packungen, eine Plastiktüte, es riecht nach Zigaretten, kalter Asche.
Daniel setzt sich zu den Freunden, die in ihr Spiel vertieft sind, Kriegshandwerkerwelt , eine Weile brauchen, um seine Anwesenheit zu registrieren, einen weiteren Moment zögern, bis sie die erste Frage stellen; sich erkundigen, wie es dem Vater geht, der auf der Intensivstation liegt.
Daniel weiß darauf nichts zu erwidern, er hat sich die Wohnung des Vaters angeschaut, ist nicht noch mal ins Krankenhaus gefahren, sagt schließlich, etwas ratlos: Wie gehabt, glaube ich.
Die vier sind schon ein paar Jahre befreundet. Steffen lernte Faruk und Fred auf einem Festival kennen, einer Institution, wie es die Berliner Programmzeitungen jedes Jahr unisono verkünden: eine Woche lang Hunderte von Konzerten auf einem ehemaligen russischen Fliegerhorst, Zehntausende Besucher. Auch Daniel hatte von dem Festival gewusst, war aber nicht mitgefahren, weil er befürchtete, auf dem Festival, dessen Motto immerhin »Für den Ferienkommunismus« lautete, dem Vater zu begegnen, sich anschauen zu müssen, wie jung der Vater geblieben war, wie er seine Freizeit ohne Familie verbrachte, und so lernte Daniel die beiden Berliner erst ein paar Wochen später kennen, als Faruk und Fred zu Besuch nach Göttingen kamen: Rumhängen am Kiessee, Baden, irgendein Konzert. Von da ab fuhren Steffen und er immer wieder zu den beiden nach Berlin, um die Hauptstadt, die sich jeden Tag neu erfindet , anders als auf Klassenfahrten, anders als bei organisierten Gruppenreisen, wo man doch nur Touristenorte ablatscht , von einem Museum ins andere rennt, das sieht, was alle sehen , aber nicht die krassen Seiten der Stadt , nicht die echten Locations zu sehen bekommt, richtig kennenzulernen. Aber obwohl sie nun seit bald vier Jahren miteinander zu tun haben, seit einigen Monaten fast täglich gemeinsam Zeit verbringen, könnte Daniel in diesem Augenblick wenig über die Freunde sagen, sind sie ihm in diesem Moment fremd, würde es ihm schwerfallen, ihnen zu erklären, was ihn beschäftigt.
Ich könnte sagen, denkt er, dass der Vater mir immer egalwar, ich ihn fünfzehn Jahre lang kaum gesehen habe, er immer nur Sachen im Kopf hatte, die nichts mit mir, nichts mit dem realen Leben zu tun hatten, also warum sollte ich mich jetzt für ihn interessieren? Und würde dann hinzufügen: Aber das Problem ist, ich interessiere mich für ihn, ich will wissen, wer er ist, Zeit mit ihm verbringen. Das könnte er sagen, doch die Freunde starren auf den Bildschirm, Fred öffnet zischend ein Bier, Steffen legt Daniel die Hand auf die Schulter, sie alle nehmen einen kalten Schluck. Der Vater war politisch ziemlich aktiv, könnte Daniel sagen, er wollte die Welt verändern, schaut auf den Bildschirm und stockt, und wieder ist da dieses Gefühl, dass etwas nicht stimmt; in seinem eigenen Leben etwas nicht stimmt.
Er trinkt also das Bier aus, während die Freunde wieder zu spielen anfangen, und geht dann allein und ohne größere Erklärung in sein Zimmer, das ihm, obwohl aufgeräumt, mit einigen gar nicht so billigen Möbeln ausgestattet, unwohnlich, unangenehm, unterkühlt erscheint. Er sinkt auf den Schaukelstuhl, den ihm die Mutter aus einem Karibik-Urlaub, von einer ihrer wenigen Fernreisen mitgebracht hat, einer der wenigen Reisen, auf denen sie mit Gerd allein war, setzt den Stuhl mit den Fußspitzen in Bewegung und hofft, mit dem gleichmäßigen Wippen ruhiger zu werden. Eine Bewegung wie bei leichtem Seegang.
Er wird aber nicht ruhiger.
Fast täglich hängen sie zusammen ab, denkt er, mit Steffen ist er schon seit der Grundschule befreundet, aber was ist das eigentlich für eine Freundschaft? Seit ein paar Monaten, seit sie in Friedrichshain wohnen, tragen sie diesen Battle, diese eigenartige Konkurrenz miteinander aus, wer es aufmehr Facebook-Freundschaften bringt, ein Wettbewerb, den sie selbstironisch kommentieren, ihnen ist klar, wie bedeutungslos das ist, wie egal Facebook und die Anzahl der Freunde dort, und doch führen sie die Auseinandersetzung fast schon erbittert, haben sogar eine Art Kodex formuliert, welche Voraussetzungen erfüllt sein
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