Der Eindringling: Roman (edition suhrkamp) (German Edition)
einmal vorgestellt wurde. Als Daniel in den Ferien noch nach Berlin fuhr, noch nicht neun Jahre alt war, war nie eine feste Freundin aufgetaucht, hatte er zumindest nie eine Freundin kennengelernt, hatte es stets nur einen unübersichtlich wirkenden, viel zu großen, lärmenden Freundeskreis gegeben. Daniel verstörte das. Als er älter wurde und ihn die um den Vater herrschende juvenile Atmosphäre, man könnte auch spätinfantil sagen, vielleicht fasziniert hätte, sah er den Vater kaum noch, beschränkten sich ihre Kontakte auf kurze Zusammentreffen an einem Nachmittag oder eine Begegnung im Urlaub, bei denen der Vater stets alleine war.
Daniel legt den Kopf in den Nacken, ein leises Knacken läuft die Halswirbel hinunter, und er beschließt, die Wohnung zu durchstöbern, Fils Unterlagen zu inspizieren. Der Kühlschrank, den er vorsichtig öffnet, auf das Schlimmste gefasst, ist ausgewischt und enteist, nur lang haltbare Produkte liegen in den Fächern – als habe der Vater seine Abwesenheit vorbereitet, seinen Abschied geplant. Die Stühle, die um den Küchentisch herum stehen, sind neu, an den Beinen kleben noch die Etiketten, russische Fichte, Produktion Kaliningrad. Doch abgesehen von der Ordnung, ein paar Möbeln, den Designergläsern wirkt die Küche bescheiden. Es gibt keine Spülmaschine, der Kühlschrank stammt aus den späten achtziger Jahren, als man mit FCKW -Freiheit noch Werbung machte, der Tisch ist zwar frisch geölt, aber zerkratzt. Daniel tritt auf den Flur, in dem der Vater die Renovierung abrupt abgebrochen zu haben scheint: Während überall sonst in der Wohnung die Tapeten abgezogen sind,kleben hier noch Papierfetzen auf dem Putz, die Spachtelspuren sind nicht zu übersehen, und Daniel schießt ein Bild durch den Kopf, das er als Foto gesehen hat oder das einer Erinnerung entspringt: Der Vater, im fleckigen T-Shirt und mit einem alten Käppi, vielleicht auch einem über der Stirn zusammengeknoteten Halstuch auf dem Kopf, hält plötzlich bei der Arbeit inne, versucht ein letztes Mal ein Stück feuchte Tapete abzuziehen und schmeißt dann – gut gelaunt, gleichgültig, von sich selbst überzeugt; was der Vater in solchen Augenblicken fühlt, kann Daniel kaum sagen – den Spachtel auf den Boden. Nichts, so denkt Daniel, bringt der Vater zu Ende, alles verfolgt er nur so lange, wie es ihn gerade interessiert, ganz plötzlich sind ihm die Tapetenreste auf einem Flur, durch den man sowieso nur durchgeht, völlig egal.
Im Raum, der zur Straße, das heißt zu einem Park, dem am Kanal gelegenen Park zeigt, fällt sein Blick auf das Bücherregal, doch Daniel interessiert sich in diesem Moment nicht weiter dafür, kann sich auch so denken, dass die üblichen Schätzings und Wallanders dort nicht zu finden sein werden. Er nimmt sich stattdessen die Musiksammlung vor, das heißt, beginnt sie durchzuhören, denn die meisten Scheiben sind selbst gebrannt, ohne Labelaufdruck und Booklet, ausgefallene Sachen, die Daniel erst nach längerem Hinhören zuordnen kann. Calypso-Nummern aus den Sechzigern, in Pidgin-Englisch gesungener Soul, Ska-Aufnahmen, vom periodischen Knacken einer beschädigten Single-Pressung getaktet. Und ganz plötzlich ist Daniel berührt, denn wenn es etwas gibt, das er zu schätzen weiß, dann ist es gute Musik. Er denkt: CD s, die sich fremd, überraschend anhören – und legt sich auf den Boden, den Blick aufs Fenster, auf den immer noch grauen, aber jetzt plötzlich feucht-warmen Himmel gerichtet, denkt: Das also war, das ist der Vater: eine Küche ohne Spülmaschine, aber mit polierten Designergläsern im Regal, ein ausgewischter, enteister Kühlschrank, von Unbeständigkeit zeugende Tapetenreste, knackende Vinyl-Überspielungen. Und plötzlich lächelt Daniel, ist er für einen kurzen Moment fast mit dem Vater versöhnt, fragt sich, ob Fil in seinem Zustand, dem Koma, diesem künstlichen Nicht-Ort, von dem man nicht weiß, wann und ob man ihn überhaupt wieder verlassen wird, wohl von seiner Musik träumt, ob ihm Melodien, Bilder, Erinnerungsfetzen durch den Kopf schießen oder ob das, was das EEG -Gerät zeigt, nur einfache elektromagnetische Entladungen eines vegetierenden Gehirns sind. Das Bild macht ihm Angst: in der Halsschlagader eine Kanüle, durch die man Sonden ein- und ausführen kann, ein brummendes Gerät, tief in der Brust eine Kunststofftasche, die sich aufbläht und wieder kontrahiert: die künstliche Pumpe.
Daniel schließt die Augen. Die Stimme in den
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