Der Eindringling: Roman (edition suhrkamp) (German Edition)
müssen – mindestens eine persönlich adressierte Kommunikation per Mail, Chat, Skype oder im wirklichen Leben, um jemanden längerfristig als Facebook-Freund führen zu dürfen, Daniel hat sich unlängst sogar dabei ertappt, wie er einen Standardkommentar verfasste, den er als Nachricht an neue Bekanntschaften verschicken kann, damit diese in der Kategorie »Freunde« bleiben können – 773 sind es mittlerweile, Steffen, der auch diese Angelegenheit etwas weniger strukturiert verfolgt, aber mehr Zeit hat, weil er nur unregelmäßig zur Uni geht, liegt vierzig Einheiten dahinter. Auch ihre FarmVille-Nachbarschaft – ein weiterer belangloser Zeitvertreib, der nicht einmal die Anforderungen eines richtigen Computerspiels erfüllt – ist zu einem ironisch begleiteten, aber doch ganz realen Wettbewerb ausgewachsen. Stolz schicken sie sich Nachrichten über den Erwerb einer teuren virtuellen Rassekatze oder den Pool-Anbau, den man mit der letzten Erdbeer- und Gemüseernte finanziert hat. Wenn Daniel ehrlich ist, hat er nur deshalb noch keine virtuellen Tiere und Häuser mit echtem Geld dazugekauft, wie es im Spiel möglich ist, weil er keine Kreditkarte besitzt und sein Konto fast immer überzogen ist. Natürlich lachen die beiden darüber, spotten auf Partys über ihr digitales Suchtverhalten, die besten Anbaustrategien bei FarmVille, die sinnlose Explosion des Freundeskreises, protzen selbstironisch mit ihrem Wissen über die Facebook-Freunde – Emil war letzte Wocheam Liegnitzsee, Richie ist jetzt mit Laura zusammen, herzlichen Glückwunsch –, und doch ist es bezeichnend für ihr Leben, denkt Daniel, ist das genau die Art von Verbindung, die ihr Leben beherrscht: Ihre virtuellen Farmen liegen nebeneinander, abends gehen sie zusammen in die Lamola-Bar, und wenn der Wirt sie von hinter dem Tresen grüßt, fühlen sie sich dazugehörig, fast ein bisschen geliebt.
Genervt stoppt Daniel den Schaukelstuhl, reibt sich die Schläfen, nimmt sich den Schuhkarton vor, den er aus Fils Wohnung mitgebracht hat und in dem der Vater einige persönliche Gegenstände aufbewahrt hat.
Im Leben des Vaters war alles anders.
War in Fils Leben alles anders?
Er ist 1962 geboren, doch die ersten Fotos stammen vom Ende der siebziger Jahre, als Fil die Haare erstmals über die Schulter reichten: als 17-Jähriger, mit Frottee-Stirnband und Mittelscheitel; neben dem Vater, der um die Volljährigkeit, das heißt den Krieg, nur knapp, nur zwölf Monate, wie Fil einmal vorrechnete, herumgekommen war und mit dem der Sohn schon zu diesem Zeitpunkt kaum noch zu tun hatte. Das immerhin hat Fil Daniel einmal erzählt, bei dem Zusammentreffen in Berlin oder später bei einer Begegnung im Urlaub: dass er in jenen Jahren – Mitte der Siebziger – seine Konflikte mit der Welt vor allem zu Hause austrug, weil die Verhältnisse , wie Fil es ausdrückte, nirgends so deutlich zum Ausdruck kamen wie in der eigenen Kleinfamilie , und so erinnert an den Großvater, der Beamter gewesen sein soll, und schon 1983, vor Daniels Geburt, an Krebs gestorben war, nur ein altes Passfoto, das ihn so zeigt, wie man es von einem Beamten erwartet: mit metallicfarbener Krawatte, strengemSeitenscheitel, ausdruckslosem Blick. Von der Großmutter hingegen, die ihrem Mann wenige Jahre später nachfolgen sollte und an die sich Daniel immerhin schemenhaft erinnert, gibt es einige, in größeren Zeitabschnitten geschossene Bilder, die sie gemeinsam mit Fil zeigen. Während die Großmutter, die über den Lebenswandel ihres Sohnes einigermaßen befremdet gewesen zu sein scheint, aber doch offensichtlich froh darüber war, Fil wenigstens gelegentlich zu Gesicht zu bekommen, auf den Fotos weitgehend unverändert aussieht, bietet Fil auf jedem Bild einen anderen Anblick: Ende der siebziger Jahre Mittelscheitel, Stirnband, leicht verklemmte Körperhaltung; etwas später, auf der Rückseite des Fotos ist die Zahl 1981 notiert, mit Seife oder Leim aufgestellte, strubbelige Haare, Nietenjacke und Grinsen; danach Irokese und betrunken glänzender Blick, und schließlich 1985, das Jahr, in dem Daniel geboren wurde, eine schnittige, ihrer Zeit vorauseilende Kurzhaarfrisur, eine neue, dunkle Cordjeans-Jacke, Sonnenbrille und Urlaubsgesicht. Daniel denkt, dass der Vater gut aussah, attraktiv, verwegen, vor allem aber glücklich, was Daniel noch empörender findet: dass der Vater in Daniels Abwesenheit auch noch glücklich gewesen sein könnte. Und zum ersten Mal gesteht Daniel
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