Der eine Kuss von dir
Samstag ist. Irgendwas mit 500 Mal, das hält man mit Sicherheit nicht durch. Also widme ich mich lieber wieder meinem Film.
Eine halbe Stunde Stoff habe ich schon, Konzertausschnitte und Interviews wechseln sich ab, aufgelockert durch Situationsaufnahmen wie Pinkelpausen oder Gespräche am Lagerfeuer. Es stimmt mich unglaublich zufrieden, hier etwas entstehen zu lassen – ein kleines Kunstwerk, eine Liebeserklärung. Papa wird staunen. Und die BlackBirds werden begeistert sein. Dieses Hochgefühl hat bestimmt auch damit zu tun, dass ich Milo bald wiedersehe. Am Bahnhof in Lübbenau hätte ich mir das nicht träumen lassen, da war eher Weltuntergang. Aber jetzt ist alles anders. Ein bisschen Angst habe ich trotzdem. Die Tour war so eine schöne Ausnahmesituation, wir waren durch die Musik verbunden und durch die gemeinsame Reise. Im schnöden Alltag wird es vielleicht komplizierter werden. Aber andererseits, wenn Milo und ich erst mal wieder gemeinsam unterwegs sind … Wird schon alles gut werden!
Freitagabend falle ich völlig erschöpft ind Bett. Der Film ist fertig geschnitten und meine Eltern haben Probepublikum gespielt und waren wirklich begeistert. Papa saß eine Weile nur so da, nickte dem Computer entgegen, sah mich schließlich ganz ernst an und sagte: »Das hätte ich nicht gedacht.«
Ich kenne meinen Vater schon eine Weile und weiß, dass das ein Kompliment sein sollte. Innerlich war ich sehr stolz, nach außen hin gab ich mich abgebrühter. »Na ja, ich habe ein wenig rumprobiert.«
Aber der Film ist wirklich toll geworden, sowohl optisch wie auch inhaltlich. Cool und wild, und dann wieder einfühlsam und intim. Eine echt gute Mischung. Ich bin gespannt, was die Jungs dazu sagen werden, und kann es kaum erwarten, bis wir eine Filmpremiere im Probekeller der BlackBirds veranstalten. Lauter Dinge, auf die ich mich freuen kann. Ganz speziell auf das Treffen morgen.
Dass ich Milo jetzt eine Weile nicht gesehen habe, macht das Ganze so viel unberechenbarer, und manchmal zweifele ich sogar daran, dass da wirklich was zwischen uns passiert ist. Aber dann muss ich mir nur seinen Monolog wieder ansehen und kann mich an jede einzelne Minute mit ihm erinnern.
Eine Sache jedoch lässt mir keine Ruhe. Ich greife nach meinem Handy und überlege lange, bevor ich die SMS verfasse.
Linda. Ich hoffe, dir geht es besser, und obwohl ich weiß, dass es dir wahrscheinlich egal ist, möchte ich, dass du weißt, wie sehr es mir leid tut, dass alles so blöd gelaufen ist. Wahrscheinlich werden wir nicht mehr zusammen tanzen gehen, was ich schade finde. Vielleicht, wenn ein wenig Zeit vergangen ist? Entschuldige. Frieda.
Keine dreißig Sekunden später klingelt mein Handy.
»Es ist mir nicht egal«, krächzt Linda in den Hörer.
»Oh. Habe ich dich geweckt?« Damit habe ich jetzt nicht gerechnet.
»Es ist mir nicht egal, dass es dir leid tut. Du bist keine Schlampe. Mir tut es leid, dass ich das gesagt habe.«
»Ach, lass mal, ist schon okay.«
»Ich bin auch nicht mit Absicht vor das Auto gelaufen, auch wenn das die Story ist, die sich jetzt alle erzählen werden. Alle halten mich für durchgeknallt.«
»Ich glaube nicht …« Wo sind die aufmunternden Worte, wenn man sie braucht?
»Milo nicht.«
»Bitte?«
»Milo hält mich nicht für durchgeknallt. Das hat er noch nie. Deshalb ist er mir so wichtig.«
»Okay.«
»Er wird für mich immer wichtig bleiben. Aber ich komme schon damit klar. Mach dir mal keine Sorgen.« Sie klingt erschöpft.
»Linda … ich …«
»Ich muss mich jetzt echt ausruhen. Der blöde Arzt hat mir noch ein paar Tage Bett verordnet. Aber ich will diesen dämlichen Film sehen, hörst du?«
»Ja.« Ich muss lächeln.
»Cool.«
»Cool.«
»Also bis bald.« Sie legt auf.
Ich bin so schrecklich erleichtert!
MEINE MUTTER WECKT mich mit einem Kaffee am Bett. Sie setzt sich auf die Kante und zieht ihren Bademantel über die Beine. »Ich habe echt nicht gemerkt, wie du so groß geworden bist.«
»Mama! Ist das dein Ernst?« Ich verziehe gähnend das Gesicht.
»Nein, ich meine, ich weiß natürlich, dass du schon groß bist, ist ja klar. Aber als ich mir gestern diesen Film von dir angesehen habe, da wurde mir klar, dass du da dein Ding machst. Dein eigenes Leben lebst, mit dem ich gar nichts mehr zu tun habe. Das ist traurig und schön zugleich. Verstehst du?«
»Ich glaube schon.« Ich könnte Mama sagen, dass ich Milo erzählt habe, dass ich unglaublich coole Eltern habe, vielleicht
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