Der einsame Baum - Covenant 05
ihm aus Kasreyns Augapfel zuflossen, sagten – so hatte es den Anschein – über ihn die ganze Wahrheit. Der Wirbel riß ihn abwärts wie eine Lawine. Er warf ihn wie einen Speer, einen Todesbringer, in die Weite der Leere. Ein Moment kam, da stand der Zusammenbruch bevor, hätte der Wall, der ihn abschirmte, durchbrochen werden können, und er wäre, schutzlos wie das Land, unter die Suggestivkraft von Kasreyns Auge geraten. Doch in ebendiesem Moment hörte er eine Folge dumpfer Geräusche, Laute eines Kampfs: Austausch von Hieben, Keuchen und Knurren des Getroffenseins. Nahebei schlugen sich kraftvolle Gestalten. In unwillkürlichem Reflex wandte er den Kopf, um zu schauen, was sich abspielte. Mit dieser Bewegung entzog er sich Kasreyns Einfluß. Der Zerrwirkung der Linsen enthoben, stellte sich Covenants Blick wieder auf das Labor ein. Er saß noch auf dem Stuhl, an den ihn der Wesir geschnallt hatte. Tische und Einrichtung der Räumlichkeit waren unverändert.
Aber der Wächter lag am Boden, verröchelte einen Rest von Leben. Über dem Husta stand Hergrom. Seine Haltung bezeugte Bereitschaft zum Sprung. »Wesir«, sagte er ausdruckslos, »solltest du dem Ur-Lord ein Leid zugefügt haben, wirst du dafür mit deinem Blut büßen.«
Covenant sah alles. Er hörte alles. »Rühr mich nicht an!« sagte er mit hohler Stimme.
16
DIE STRAFE DES GADDHI
Lange Zeit hindurch konnte Linden Avery nicht schlafen. Der Stein der Sandbastei, der sie umgab, beschränkte ihr Wahrnehmungsvermögen. Die Wände selbst schienen sie anzustarren, als läge ihnen daran, geheime Absichten zu verdecken. An den Grenzen ihres Wahrnehmungsbereichs bewegten sich die Hustin wie Flecken von Widerwärtigkeit. Die mißratenen Geschöpfe waren überall, eine Art von Gefängniswärtern sowohl für den Hofstaat wie auch die Gefährten. Während des Banketts hatte Linden die Höflinge beobachtet und war zu der Erkenntnis gelangt, daß ihre Heiterkeit ein Schauspiel war, von dem sie glaubten, ihre Sicherheit hinge davon ab. Aber es konnte in dieser Festung, die der Wesir für sich und seinen aufmüpfigen Gaddhi errichtet hatte, keine Sicherheit geben.
Lindens sorgenschweres Gemüt sehnte sich nach der bewußtlosen Erholungspause des Schlafs. Unter der Wachsamkeit und Ruhelosigkeit jedoch, die die Sandbastei in ihr hervorriefen, nagte an ihr eine tiefere, schmerzlichere Aufwühlung. Die Erinnerung an die Suggestivkraft des Wesirs regte sich unablässig in der Mordgrube ihres Herzens. Kasreyn hatte sie nur durch seinen goldenen Ring angeblickt, und sofort war sie zu seinem Werkzeug geworden, einer bloßen Verlängerung seines Willens. Sie hatte sich nicht gewehrt, nicht einmal die Notwendigkeit zur Gegenwehr erkannt. Er hatte sie sich so mühelos unterworfen, als habe sie ihr Leben lang auf nichts anderes gewartet. Die Haruchai waren ihm zu widerstehen fähig gewesen. Sie dagegen hatte sich als hilflos erwiesen. Die Offenheit ihrer Sinne hatte ihr keine Verteidigungsmöglichkeit gelassen. Sie war die Türen, die das Land in ihr geöffnet hatte, völlig zu schließen außerstande. Infolgedessen war sie Thomas Covenant in den Rücken gefallen. Er war durch eine Sehnsucht an sie gebunden, die tiefgreifender war als alles, was sie sich je für einen Mann zu fühlen gestattet hatte; und sie hatte ihn sich abhandeln lassen, als wäre er für sie ein wertloses Ding. Nein, nicht einmal abhandeln lassen; ihr war überhaupt keine Gegenleistung geboten worden. Sie hatte ihn einfach weggegeben. Nur Brinns entschiedene Weigerung hatte ihn gerettet.
Die Pein, die dieser Vorfall ihr verursachte, überwog die Bedrohlichkeit der Sandbastei. Sie sah darin die Krönung all ihres ständigen Versagens. Sie kam sich vor wie ein Stein, auf den man zu hart oder zu oft geschlagen hatte. An der Oberfläche war sie unbeschadet geblieben; in ihr jedoch breiteten sich mit jedem Scheitern Risse der Zermürbung aus. Sie wußte nicht mehr, wie sie sich selbst noch trauen sollte.
Nach dem Bankett täuschte sie in ihrem Zimmer zunächst Schlaf vor, weil sich Cail bei ihr befand. Aber auch seine Anwesenheit trug dazu bei, daß sie nicht einzuschlafen vermochte. Das Gesicht zur Wand gedreht, spürte sie seine rauhe Präsenz wie Druck gegen ihr Rückgrat, leugnete den geringsten Mut, den sie noch hatte. Auch er vertraute ihr nicht.
Doch der Tag war lang und anstrengend gewesen; und zu guter Letzt überwand die Müdigkeit Lindens Anspannung. Sie entschwebte in Träume von
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