Der einsame Baum - Covenant 05
Zweiten Rund zurück. Unterwegs begegneten sie keinen Wachen. Nicht einmal im Rund der Hoheit waren Hustin zu sehen.
Die Erste suchte den großen Raum am Ende des Korridors mit den Gästezimmern auf. Während Linden und die anderen sich zur Schwertkämpferin hineingesellten, blieb Ceer im Korridor, um die Tür zu bewachen. Behutsam setzte Brinn den Ur-Lord auf eine Polsterbank. Dann erst stellte er Linden und gleichzeitig die Erste zur Rede. Seine Stimme klang gleichgültig, aber für Lindens Ohren schwang darin ein Unterton des Vorwurfs mit. »Warum haben wir den Wesir nicht erschlagen? Damit hätten wir uns auf den Weg unserer Sicherheit begeben.«
Die Erste musterte ihn, als bisse sie sich, um Beherrschung zu bewahren, auf die Zunge. Zwischen den beiden verstrich ein Moment harter Konfrontation, bevor sie antwortete. »Die Hustin zählen achtzig mal hundert. Der Reiter sind's fünfzehn mal zwanzig an der Zahl. Durch Kampf vermögen wir hier nichts zu erreichen.«
Linden fühlte sich wie ein Krüppel. Wieder einmal war sie wie gelähmt gewesen und hatte nicht handeln können; ihre inneren Widersprüche verdammten sie zu permanenter Nutzlosigkeit. Sie konnte sich nicht einmal die Unannehmlichkeit ersparen, Brinns Meinung zu unterstützen. »Die Hustin fallen gar nicht so ins Gewicht. Über die Reiter weiß ich nicht Bescheid. Aber die Wachen haben keinen eigenen Geist. Sie wissen nicht, was sie tun sollen, wenn Kasreyn es ihnen nicht sagt.«
Blankehans sah sie überrascht an. »Aber der Gaddhi hat geäußert, sie ...«
»Er irrt sich.« Die Schreie, die sie bislang erfolgreich unterdrückt hatte, verliehen Lindens Stimme Ansätze zum Schrillen. »Kasreyn hält ihn wie ein Schoßhündchen.«
»Dann also lautet dein Wort«, erkundigte sich die Erste in düsterem Ton, »wir hätten den Wesir erschlagen sollen?« Linden mied den Blick der Ersten. Ja! wollte sie schreien. Und zugleich: Nein! Klebte noch nicht genug Blut an ihren Händen? »Wir sind Riesen«, sagte die Schwertkämpferin in Lindens Schweigen. »Wir morden nicht.« Damit ließ sie die Sache bewenden. Nichtsdestotrotz war sie zum Kämpfen geschult und ausgebildet. Die Verkrampftheit ihrer Schultern bewies so klar wie Worte, daß die Anstrengung, sich angesichts von soviel Gefahr und derartiger Feindseligkeit zurückzuhalten, sie innerlich fast zu zerreißen drohte.
Tränen brachten Lindens Blickfeld ins Verschwimmen. Jedes Urteil über sie, von wem es auch kommen mochte, setzte sie herab, bewertete sie ungünstig. Selbst Covenants seelische Leere war ein gegen sie gerichteter Vorwurf, auf den sie keine Antwort kannte.
Was hatte Kasreyn mit Hergrom gemacht?
Im Innern der Sandbastei blieben Helligkeit oder Dunkelheit der Welt unsichtbar. Aber zu guter Letzt kamen Diener mit Tabletts voller Speisen in den Raum, so daß anzunehmen war, die Sonne ging auf. Erschöpfung und Zermürbung hatten Lindens Gedanken abgestumpft; aber sie schaffte es, sich aufzuraffen und das Essen einer Überprüfung zu unterziehen. Sie neigte nun dazu, hinter allem irgendeine Heimtücke zu mutmaßen. Doch schon eine kurze Begutachtung stellte klar, das Frühstück war einwandfrei. In dem Bewußtsein, es gebrauchen zu können, aßen sie und ihre Gefährten jeder seinen Teil, darum bemüht, sich auf das Unvoraussehbare des neuen Tages vorzubereiten.
Linden betrachtete aus todmüden, rot umränderten Augen Hergrom. Von der braunen Haut seines Gesichts bis zum lebendigen Mark in seinen Knochen war an ihm keinerlei irgendwie geartete Schädigung zu bemerken; nichts erinnerte daran, daß der Wesir ihn überhaupt berührt hatte. Aber die unversöhnliche Strenge seiner Miene hinderte sie daran, ihm Fragen zu stellen. Die Haruchai vertrauten ihr nicht mehr. Als sie sich weigerte, Kasreyns Tod zu befürworten, hatte sie verworfen, was sich nachträglich als die einzige Chance zu Hergroms Rettung erweisen machte.
Einige Zeit später fand sich Rire Grist ein. Ein zweiter Mann begleitete ihn, ein Soldat mit schwermütigem Gesichtsausdruck, den der Caitiffin als seinen Unterführer vorstellte. Rire Grist verhielt sich während der Begrüßung, als hätte er von den nächtlichen Zwischenfällen nichts gehört. »Meine Freunde«, sagte er dann unbefangen, »es beliebt dem Gaddhi, sich am heutigen Morgen mit Lustwandeln auf dem Sandwall zu vergnügen. Er bittet euch, ihn zu begleiten. Die Sonne scheint mit wundervoller Klarheit und gewährt einen vorzüglichen Ausblick in die Weite der
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