Der einsame Baum - Covenant 05
bleibt nichts anderes übrig, als dafür zu sorgen, daß er am Leben bleibt, und zu hoffen, daß er's nicht satt wird, mich hinter sich herzuschleppen. Ich glaube, ich habe mit meinem Leben nie etwas anderes angefangen, als mich immer nur zu wehren . Ich bin nicht Ärztin geworden, weil ich möchte, daß Menschen leben. Sondern weil ich den Tod hasse.« Ihr war danach, jetzt weiterzureden. Im Sonnenschein, den warmen Stein unter sich, Wind im Haar, Pechnases Sanftmut an ihrer Seite, fühlte sie sich geneigt, sich ihre Geheimnisse von der Seele zu reden. Aber sobald sie schwieg, ergriff der Riese das Wort.
»Auserwählte, ich habe dich vernommen. In dir sind Zweifel, Furcht und auch Besorgnis. Allerdings haben sie sehr wohl einen anderen Namen, den du nicht aussprichst.« Er veränderte seine Haltung, straffte sich, soweit die Verkrümmtheit seines Rückens es zuließ. »Ich bin ein Riese. Ich will dir eine Geschichte erzählen.« Linden antwortete nicht. Sie fand, daß noch nie irgend jemand mit der Art von Mitgefühl wie Pechnase zu ihr gesprochen hatte. »Es mag sein«, fügte er nach einem Moment hinzu, »dir ist zu Ohren gekommen, daß ich Gemahl der Ersten der Sucher bin, deren Name Seidensommer Glanzlicht lautet.« Wortlos nickte Linden. »Dahinter nun verbirgt sich eine Geschichte, die des Erzählens wert ist. Auserwählte, zuvor mußt du begreifen, daß wir Riesen kein sonderlich fruchtbares Volk sind. Eine Familie mit gar drei Kindern ist bei uns eine außerordentliche Seltenheit. Daher sind unsere Kinder uns kostbar – wahrlich, Kinder sind der Schatz aller Riesen, selbst solche wie ich, die kränklich und mißgestaltet geboren werden, ganz als seien sie ein böses Omen der Erd-Sicht. Doch wir sind auch ein langlebiges Volk. Unsere Kinder sind noch Kinder, wenn sie ein solches Alter wie du erreicht haben. Deshalb dürfen unsere Familien darauf hoffen, für die Dauer von Zeitspannen in Gemeinsamkeit zu leben, die weniger nach Jahren als eher nach Jahrzehnten zählen. So ist das Band zwischen Eltern und Kindern während Geschlechterfolge um Geschlechterfolge sowohl traut wie auch dauerhaft, so groß von Bedeutung für unser Dasein wie eine Ehegemeinschaft. Das mußt du wissen, um voll und ganz verstehen zu können, wie meine Sommerseide zweifach verwaist ist.« Er äußerte seine Worte im Sonnenschein sorgsam und bedächtig, als wären sie wertvolle Kleinode. »Ihr erster Verlust war ungemein bitterlich. Das Leben Schaumig Gischtschwalls, ihrer Mutter, entwich auf dem Kindbett – allein für sich ein Ereignis von trauriger Sonderlichkeit, denn wiewohl unsere Fruchtbarkeit gering ist, sind wir doch ein zähes Volk, und ein solches Unheil geschieht selten. Daraus ergab es sich, daß meine Sommerseide von Geburt an der Liebe ihrer Mutter, einer Liebe, die ein jeder aufs stärkste zu schätzen weiß, ermangeln mußte. Folglich suchte sie mit verstärkter Kraft – einer Kraft, die manche aus Not erklären – an Bonke Knorrigfaust Halt, ihrem Vater. Bonke Knorrigfaust nun war Schiffsmeister eines Riesen-Schiffs mit dem stolzen Namen Wellentänzer, und sein Sehnen nach dem Salz der See zog ihn oftmals in die Ferne und fort von seinem Kind, das zu solch einer Gewandtheit und Lieblichkeit heranwuchs, daß jedermanns Herz bei seinem Anblick wahrhaft schmerzliche Freude empfand. Desgleichen war es sein Andenken an Schaumig Gischtschwall, seine verschiedene Gemahlin. Deshalb nahm er schließlich sein Töchterlein Glanzlicht mit sich auf seine Fahrten, und sie gedieh zu einem jungen Weib, derweil unter ihren Füßen das Deck schwankte und Salz ihr Haar zierte wie Edelstein. Zu jener Zeit ...« – Pechnase warf Linden einen kurzen Blick zu, ehe er ihn wieder in die Weite des Himmels und seine Geschichte lenkte – »verrichtete ich mein Handwerk an Bord der Wellentänzer. Dort lernte ich Glanzlicht kennen, bis ihr Antlitz das Licht in meinen Augen war und ihr Lächeln das Lachen in meiner Kehle. Sie jedoch schätzte mich wenig. War sie denn etwas anderes als ein Kind? Welche Bedeutung hätte ein Krüppel, wenngleich keines hohen Alters, für sie haben sollen? Sie lebte in der Freude ihres Vaters und der Liebe des ganzen Schiffs und kannte mich nur als einen von etlichen Riesen, die sich in ihres Vaters engerem Umkreis befanden. Ich aber war's damit zufrieden. Das war mein Los. Ein Weib – und um so mehr eine Maid – mag einen Krüppel in Mitleid und Freundlichkeit ansehen, vielleicht gar in Freundschaft, doch nie
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