Der einsame Baum - Covenant 05
allesamt aneinander vorüber, ohne ein Wort zu sprechen. Sie waren so ruhig und gefaßt wie während ihrer Riten der Selbstbetrachtung. Nur das Glöckchenläuten legte die Schlußfolgerung nahe, daß eine Kommunikation stattfand. Mißmutig versuchte Linden abermals, in dem Klingen einen Sinn zu entdecken. Doch es blieb fremdartig und unverständlich, wie eine fremde Sprache, deren Klang vertraut war, aber nicht die Bedeutung. Da erregte die Ankunft eines weiteren Elohim Lindens Aufmerksamkeit. Zuerst bemerkte sie ihn nicht, als er den Kreis betrat. Weder seine reine, helle Haut noch sein cremefarbenes Gewand unterschieden ihn wesentlich von der vornehmen Versammlung. Aber als er sich näherte – irgendwie ziellos den Hügel umrundete –, zog er Lindens Blick an wie ein Magnet. Sein Anblick jagte ihr ein Schaudern über den Rücken. Er war der erste Elohim, den sie sah, der sich in kläglicher Erscheinung zeigte.
Er hatte ein Äußeres angenommen, als sei er von Härten abgehärmt und ausgelaugt worden. Seine Gliedmaßen ließen in ihrer Hagerkeit das Zusammenspielen der Muskeln sehen; seine Haut besaß die bleiche Straffheit von Narbengewebe; das Haar hing ihm in ungekämmten silbernen Strähnen auf die Schultern. Seine Stirn, die Wangen und Augenwinkel wirkten allesamt, als wären sie mit den Werkzeugen der Mühsal und des Bangens gemeißelt worden. Rings um das verschwommene Gelb seiner Augen waren die Höhlen so düster wie alte Reue. Und er bewegte sich mit der Steifheit eines Menschen, den man gerade geprügelt hatte. Er beachtete die Versammelten nicht, sondern bahnte sich einen Weg durch die Reihen der anderen Elohim, die ihm ihrerseits ebensowenig Beachtung schenkten. Linden starrte ihm nach; spontan riskierte sie eine weitere Frage. »Wer war denn das? « erkundigte sie sich bei Daphin.
»Er ist Findail der Ernannte«, antwortete Daphin, ohne Linden oder den Mann anzusehen.
»Der ›Ernannte‹?« wiederholte Linden. »Was soll das heißen?«
Ihre Gefährten lauschten aufmerksam. Obwohl sie nicht über Lindens Sinne verfügten, war ihnen Findails Auftreten nicht entgangen. Inmitten so zahlreicher eleganter Elohim trug er an seinem Gram, als sei er ein von einer Folterung zurückgebliebenes Mal. »Sonnenkundige«, sagte Daphin leichthin, »ihm ist eine beklagenswerte Last aufgebürdet. Er ist der Ernannte, weil er den Preis unserer Weisheit zu begleichen hat. Wir sind ein Volk, das durch seine Kraft der Vision vereint ist. Ich habe bereits davon gesprochen. Die Wahrheiten, die Morgenlicht in sich findet, sind auch in mir. Dadurch sind wir stark und können unserer Sache sicher sein. Aber in einer solchen Stärke und Sicherheit liegt auch Gefahr. Eine Wahrheit, die einer sieht, mag einem anderen verborgen bleiben. Wir reden nicht leichtfertig in aller Offenheit über ein derartiges Versagen, denn wie könnte einer der unseren zu einem anderen äußern: ›Meine Wahrheit ist größer als deine?‹ Und niemand in der ganzen Welt vermöchte sich mit uns zu messen. Doch in unserer Wahrheit lassen wir Vorsicht walten. Deshalb setzen wir, wann immer auf Erden ein Notstand eintritt, der unser Eingreifen verlangt, einen aus unserer Mitte zum Ernannten ein, dem's obliegt, unserer Weisheit Ausdruck zu verleihen. Seine Aufgaben sind verschieden, ganz nach der Art dessen, was es zu tun gilt. Es mag ein Zeitalter geben, in dem der Ernannte unsere Einheit in Frage stellt, uns auffordert, gründlicher nach der Wahrheit zu forschen. Ein anderes Zeitalter mag anbrechen, da's ihm zufällt, unserer Einheit Erfüllung zu gewährleisten.« Für einen Moment nahm Daphins Ton unheilschwangere Anklänge an. »In allen Zeitaltern jedoch muß er den Preis des Zweifels entrichten. Findail wird wider die verhängnisvolle Bedrohung der Erde sein Leben wagen.« Wider die verhängnisvolle Bedrohung der Erde? Diese Vorstellung machte Linden betroffen. Wie das? War Findail wie Covenant – nahm er die Bürde eines ganzen Volkes auf sich? Und was war der Preis? Was hatten die Elohim gesehen, für das sie sich verantwortlich fühlten – und zu dem sie doch keinerlei Erläuterungen abgeben wollten? Was wußten sie über den Verächter? War er Chants Schatten? Lindens Blick folgte Findail. Doch während sie noch mit ihrer Verwirrung rang, überkam eine Änderung die Versammlung. Sämtliche Elohim hörten sich zu regen auf, und Daphin lächelte erwartungsvoll. »Ah, Infelizitas kommt, Sonnenkundige«, sagte sie leise. »Das Elohim -Fest
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