Der Einzelgänger
Beunruhigendes, dem Piloten - der Person, in deren Händen Ihr Leben liegt - zuzusehen, wie er sich in das Kontrollbord des Flugzeugs einstöpselt und dann prompt einschläft!
Ohne Scherz, genauso sieht es aus. Raven sieht total schlaff aus, wie sie dort auf ihrer Pilotenliege hängt. Nur der Vierpunkt-Sicherheitsgurt und die spezielle Kopfstütze mit Stirngurt halten sie aufrecht und davon ab, wie eine Leiche in den Hohlraum unter das Kontrollbord zu rutschen. Ihre Augen sind geschlossen, und ihr Mund steht offen. Und sie sabbert. Nur ein wenig, aber es reicht.
Argent sieht zu mir herüber und grinst. Er sitzt rechts neben Raven auf dem Copilotensitz, während ich auf einem Notsitz hinter der Lücke zwischen den beiden Vordersitzen hocke. Auch früher im Bus habe ich nie gerne hinten gesessen, und hier ergeht es mir nicht anders. Immerhin hat man aus dem Merlin eine unglaubliche Sicht. Von meinem Platz hat man den Eindruck, daß mindestens fünfundsiebzig Prozent der Nase aus Transplast bestehen, was bedeutet, daß ich ein Blickfeld in der Horizontalen von über hundertachtzig Grad und in der Vertikalen von über neunzig Grad habe. Man hat beinahe das Gefühl, sich in einer verdammten Luftblase zu befinden, die achtzehnhundert Meter hoch in der Luft schwebt.
Um mich von dem kleineren Anfall von Platzangst, von der ich gar nicht wußte, daß ich sie hatte, abzulenken, konzentriere ich mich auf den Notsitz, auf dem ich festgeschnallt bin, und auf den Techdrek darum herum. Als erstes fällt mir eine kleine Schwingkonsole auf, die eine Reihe von Anzeigen aufweist, welche zu den meisten Sensoren passen, die vom Kontrollbord gesteuert werden. Natürlich sind sie nicht bezeichnet, aber nichtsdestoweniger interessant. Ich glaube, ein paar von ihnen erkannt zu haben - ECM- und ECCM-Anzeiger hier, Gefahrenanzeige dort und eine Auflistung aller an Bord befindlicher Verbrauchsgüter drüben. (Ich stelle mit grimmigem Interesse fest, daß der Merlin eine volle Ladung Störfolien und Leuchtkugeln an Bord hat. Warum, frage ich mich. Weil Raven immer auf alles vorbereitet ist? Oder weil sie damit rechnet, sie in näherer Zukunft auch einsetzen zu müssen?)
»Gefällt dir das Fliegen nicht, Wolf?« fragt der Runner sanft.
Drek. Ich dachte, ich hätte meine Angst besser verheimlicht. Als Antwort zucke ich die Achseln.
»Ich habe es immer gehaßt.« Er kichert. »Natürlich war das die Zeit, als Fliegen in einem Flugzeug normalerweise gleichbedeutend damit war, daß ich irgendwann aus ihm absprang.« Ich speichere diese Auskunft zwecks späterer Verwendung ab - Ausbildung und Erfahrung als Fallschirmspringer. Was hat dieser Argent überhaupt für einen Hintergrund?
»Dann dachte ich mir, warum, soll ich mich nicht einfach zurücklehnen und die Aussicht genießen?« fährt er fort. »Warum mir Sorgen machen? Wir müssen alle abtreten, wenn unsere Nummer gezogen wird, und es spielt keine Rolle, wo wir uns dabei befinden -in einem Flugzeug, in einem Feuergefecht oder in einem gemütlichen warmen Bett -, wenn die Zeit gekommen ist.«
»Ja«, brumme ich, indem ich mit dem Daumen auf Raven zeige. »Aber was ist, wenn ihre Nummer gezogen wird?«
Der Merlin ist ein schnelles Flugzeug, ein Segen, weil das bedeutet, daß wir um so schneller wieder auf der Erde sind. Minuten nach dem Start haben wir eine Flughöhe von achtzehnhundert Metern erreicht und düsen nach Süden. Die Demarkationslinie, wo der Sprawl endet und das Salish-Shidhe-Territorium beginnt, ist offensichtlich, obwohl wir zu hoch sind, um die Mauern, Zäune und Wachposten sehen zu können. Auf der einen Seite der Demarkation befindet sich Stadt, auf der anderen Land. Es ist so, als hätte Gott ein Rasiermesser genommen und einen scharfen Rand um das Stadtgebiet gezogen, das sich ansonsten nach Süden bis Portland ausdehnen würde.
Das Überqueren dieser Linie, der unsichtbaren Grenze zwischen dem Luftraum der UCAS und dem des S-S-Councils, bereitet mir ein wenig Kopfzerbrechen. Obwohl ich es nie selbst versucht habe, ist mir genug darüber zu Ohren gekommen, wie verdammt schwierig es sein soll, ›über die Mauer und aus dem Sprawl herauszukommen‹ - das heißt, über die Grenze in das amerindianische Gebiet zu gelangen, das Seattle umgibt. Ich kann nicht glauben, daß das S-S-Council uns ›dekadente Seattier‹ freundlicher behandelt, wenn wir aus der Luft in ihr unverdorbenes Land eindringen.
Meine Sorgen sind jedoch nicht so groß wie bei Ar-gents Einfahrt in den
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