Der Einzelgänger
privaten Teil des Seattier Flughafens. Ich muß davon ausgehen, daß Raven Kontakt zur Bodenkontrolle hat und sich auch an den ganzen anderen Drek hält, aber ihr Körper hat sich keinen Millimeter gerührt, und sie hat sich auch nicht die Mühe gemacht, ihre Gespräche über die Bordlautsprecher zu führen. Oder - wer weiß? - vielleicht mußte sie auch mit niemandem reden. Nach allem, was ich weiß, könnte der Transponder im Merlin immer noch das Erkennungszeichen für einen Transport hochrangiger Ya-matetsu-Execs ausstrahlen. Wie auch immer, wir düsen jedenfalls ohne die geringste Störung durch den S-S-Luftraum. Man muß auch für die kleinen Freuden dankbar sein, lautet meine Devise.
Sobald wir den Sprawl hinter uns haben, ändert sich das Motorengeräusch. Für einen Sekundenbruchteil glaube ich, daß wir in Schwierigkeiten stecken, dann wird mir klar, daß Raven nur aufdreht. Während die großen Motoren auf volle Leistung hochgefahren werden, suche ich die Kontrollen vor mir nach einem Geschwindigkeitsmesser ab. Schließlich sehe ich Zahlen, die sich etwa im richtigen Bereich bewegen. Wenn ich recht habe, fliegen wir mit einer Geschwindigkeit von etwa sechshundert Stundenkilometern. Nicht schlecht. Wir könnten in einer halben Stunde in Portland sein. Pillar Rock - der Standort der NVC-Anlage - befindet sich auf der anderen Seite des Columbia, vielleicht sechzig Kilometer im Westen in Richtung Ozean.
Nach kurzer Zeit sehe ich das Glitzern von Wasser voraus. Ich beuge mich vor und klemme den Kopf zwischen die beiden Vordersitze, um einen Blick auf die Navigationskarte zu werfen, die Argent auf dem Hauptschirm des Copiloten aufgerufen hat. Jawoll, das Wasser vor uns ist der Columbia, wie ich vermutet habe. Dem kleinen Lichtpunkt zufolge, der den Merlin darstellt, befinden wir uns zehn Kilometer östlich von Pillar Rock und überfliegen gerade den Ort Skamo-kawa - eine kleine, makellos aussehende Gemeinde und Raven legt das Flugzeug in eine Rechtskurve, also nach Westen. Der Anzeige nach zu urteilen, die ich für einen Höhenmesser halte, sind wir auf fünfhundert Meter heruntergegangen. Die Geschwindigkeit ist ebenfalls geringer geworden und beträgt nur noch dreihundert Stundenkilometer.
»Zwei Minuten.« Die Stimme gehört Raven, aber sie kommt nicht aus ihrem Mund, der weiterhin ihren Overall vollsabbert. Nein, die Stimme kommt aus den kleinen Lautsprechern über der Hauptkonsole.
»Verstanden«, antwortet Argent. Ich sehe, wie er die Karte löscht und eine neue aufruft. Es dauert einen Augenblick, bis ich erkenne, daß es sich um eine vergrößerte Echtzeitaufnahme des vor uns liegenden Geländes handelt, die wahrscheinlich von einer externen Videokamera gemacht wird. Das Bild zoomt heran und wieder weg, wird unscharf und wieder schärfer, als Argent die Empfindlichkeit der Kontrollen testet. Dann fällt mir ein kleines Fadenkreuz in der Mitte des Schirms auf, und ich sage: »Ah, Argent...«
Er dreht sich zu mir um, sieht meine Blickrichtung und kichert in sich hinein. »Kein Grund zur Aufregung, Chummer«, sagt er. »Das war mal eine Geschützvorrichtung, aber Raven hat sie durch eine Videoanlage ersetzt, als sie den Vogel gekauft hat. Ich dachte mir, wir könnten vielleicht etwas Lebendigeres als Erinnerungen gebrauchen.«
Ich nicke, während ich mich innerlich verfluche. Ja, Aufnahmen, da ist was dran... darauf hätte ich selbst kommen müssen. Ich bekomme langsam das Gefühl, daß ich in letzter Zeit immer weniger denke.
Hier, in der Nähe der Mündung, ist der Columbia sehr breit, mindestens einen Kilometer, schätze ich. Der Merlin fliegt parallel zum Nordufer, etwa hundert Meter weit über dem Fluß und in einer Höhe von zweihundertfünfzig Metern. Ich schaue nach links aus dem Cockpit. Dort drüben, einen Kilometer entfernt, liegt Tir Tairngire. Bei dem Gelände, das genauso aussieht wie das auf der Nordseite des Flusses, handelt es sich im wesentlichen um Flachland, das mit Gras und kleinen Bäumen bewachsen ist. Die ganze Gegend sieht naß und sumpfig aus. Irgendwie bin ich enttäuscht - das ach so mysteriöse ›Land der Verheißung‹ sollte anders aussehen, vielleicht mit Feenstaub aus den Kindergeschichten oder irgend so einem Drek bedeckt sein. Aus dieser Entfernung hat es nichts Besonderes an sich.
Ravens Stimme erklingt wieder aus den Lautsprechern und läßt mich zusammenfahren. »Ziel erfaßt«, verkündet sie. »Argent, gib mir die Kamera.«
Der Runner drückt auf ein paar
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