Der Einzelgänger
Nase des Merlin bleibt jedoch nach unten gerichtet, und alles, was ich voraus sehen kann, ist das graubraune Wasser des Columbia, das mit jeder Sekunde näherkommt. Ich reiße mich von dem hypnotischen Anblick los und werfe einen Blick auf den Höhenmesser. Dreißig Meter und fallend. Dann stoppt das Flugzeug seinen Sturzflug, wobei so viele Gs entstehen, daß ich ein Gefühl habe, als sitze mir Argent auf der Brust. Das Wasser ist zum Greifen nah und jagt mit siebenhundert Stundenkilometern unter dem Cockpit vorbei. Ich nehme an, daß Raven versucht, die Rakete mit Hilfe des Oberflächeneffekts abzuschütteln. Theoretisch eine gute Idee, aber nach allem, was ich darüber weiß, ist flaches Wasser - wie zum Beispiel ein Fluß - nicht die geeignetste Umgebung dafür. Über zerklüftetem Gelände stehen die Chancen viel besser. Nicht, daß wir die Wahl hätten.
Ich werde wieder in die Gurte gedrückt, als Raven das Flugzeug in eine weitere enge Kurve reißt. Ich sehe nach draußen, und aus dem Cockpit sieht es so aus, als schwebe die linke Flügelspitze nur Zentimeter über dem Wasser. Wenn Raven sich verschätzt und die Flügelspitze aufsetzt, heißt es game over. Meine Phantasie ist lebhaft genug, um mir vorzustellen, wie der Merlin hochgeschleudert und auseinandergerissen wird, bevor er in einem schwarzroten Feuerball verschwindet.
»Gib mir die Leistungsmerkmale der Rakete«, befielt Ravens Stimme. »Ich bin im Moment etwas zu beschäftigt.« Das will ich gern glauben. Selbst mit Fahr-zeugkontrollrigs gibt es nur eine gewisse »Bandbreite«, die das menschliche Hirn bewältigen kann, und ein Geschoß wie diesen Merlin so schnell und so niedrig zu fliegen, muß eine ganze Menge ›Rechenka-pazität‹ beanspruchen.
Argent lockert seinen Gurt und beugt sich vor, um einen genaueren Blick auf seine Konsole zu werfen. »Gen sechs, Pulsweite Klasse B, Pulsfrequenz Klasse 4C«, liest er die Werte vor. »Hat Kontakt. Der Werfer zeichnet uns auch noch. Willst du noch mehr wissen?«
»Im Moment nicht«, erwidert Raven. Wir legen uns in eine steile Kurve in die entgegengesetzte Richtung. »Bei dem Radarprofil haben wir es mit einer Ares Type Four zu tun.«
»Ist das gut?« frage ich.
»Könnte besser sein«, bemerkt Argent.
Ich halte mich an den Griffen zu beiden Seiten meines Sitzes fest, als Raven den Merlin durch eine Reihe enger Flugmanöver jagt. Zweimal kurz hintereinander gibt es einen dumpfen Knall im Heck des Merlin, und das Flugzeug erbebt. Ich muß annehmen, daß Raven Störfolien absetzt - bei denen es sich zumindest bei ei-nigen wahrscheinlich um aktive Störfolien handelt, in deren Mylarfolie radarabweisende Mikrochips eingearbeitet sind.
»Hat uns immer noch im Sucher«, verkündet Ar-gent. »Entfernung tausend Meter.«
»Dann haltet euch fest, Jungs. Jetzt geht's um die Wurst.«
Es knallt noch zweimal, dann zieht der Merlin mit heulenden Motoren und ächzenden Verstrebungen steil nach oben. Ich stoße ein dumpfes Uff! aus, als der Druck auf meiner Brust rapide zunimmt. Durch das Cockpit kann ich lediglich die graue Bewölkung ein paar tausend Meter über uns sehen. Wenn das das letzte ist, was ich in meinem Leben zu sehen bekomme, hätte ich etwas Interessanteres vorgezogen.
Die Anzeigen auf der Konsole vor mir verändern sich. Gute oder schlechte Neuigkeiten?
»Rakete hat Kontakt mit uns verloren«, verkündet Argent trotz der Tatsache, daß er im Moment doppelt so viel wiegt wie sonst, mit absolut ruhiger Stimme. Wie um diese Bemerkung zu unterstreichen, gibt es hinter uns eine unglaubliche Erschütterung. Das Flugzeug erbebt, und ich höre mich vor Angst aufkreischen.
Ich spüre, wie der Merlin rollt, und ich glaube, wir sind getroffen und stürzen ab. Doch eine Sekunde später wird mir klar, daß Raven ein geplantes Manöver geflogen ist. Innerhalb von Sekunden befinden sich die Tragflächen wieder in der Horizontalen, und wir düsen mit Höchstgeschwindigkeit nach Osten. Ich wische mir über die Stirn, und als ich meine Hand betrachte, ist sie sehr naß.
Argent dreht sich zu mir um und bemerkt im Konversationston: »Die Rakete hat sich an die Störfolie gehängt und ist direkt hineingeflogen. Ziemlich beeindruckende Explosion, was?«
Ja, genau. Ich werfe einen Blick auf Raven. Sie hängt immer noch so da wie zu Anfang und sabbert vor sich hin. Toller Umgang, den ich in letzter Zeit pflege. Der Runner prüft wieder seine Anzeigen und verkündet: »Werfer zeichnet uns nicht mehr.«
Das ist,
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