Der Einzelgänger
Knöpfe an seiner Konsole - wahrscheinlich überstellt er die Kameraanlage damit an Ravens Riggerkontrollen -, dann lehnt er sich zurück und verschränkt die Arme. Auf dem Copilotenschirm schwankt das Bild schwindelerregend hin und her, als die Kamera nach rechts ausgerichtet wird. Sie zoomt an etwas heran, eine kleine Gebäudeansammlung. Trotz maximaler Vergrößerung sind wir noch zu weit entfernt, um irgendwelche Einzelheiten erkennen zu können.
»Wie hast du die Anlage so schnell gefunden?« fragt Argent neugierig.
Raven kichert. Im Gegensatz zu ihrer Stimme, die ganz natürlich klingt, hört sich ihr Lachen schrecklich und unmenschlich an, durch die Elektronik völlig entstellt. »Ich konnte sie kaum verfehlen, Chummer«, verkündet sie. »Sie hat ein fettes Navigationssignalfeuer, sie hat permanente, durch Radarstrahlen begrenzte Gleitpfade, und selbst das Hintergrundrauschen des Oberflächenradars zeichnet noch auf meinen Sensoren.«
»Oberflächenradar«, grübelt der Runner. »Landeinwärts oder über dem Fluß?«
»Beides.«
»Drek«, murmelt Argent. »Permanente Gleitpfade bedeuten kontrollierten Luftraum, richtig? Irgendwelche Vermutungen, wie weit sie sich erstrecken?«
»Schwer zu sagen«, räumt Raven ein. »Im Plex darf der Durchmesser bei Privatanlagen einen halben Kilometer nicht überschreiten. Aber das hier ist Stammesland, und ich kenne die entsprechenden Bestimmungen ... Hal-Io«, unterbricht sie sich selbst. »Sie fragen unseren Transponder ab.«
»Was, zum Teufel, hat das zu bedeuten?« will ich wissen.
»Eine elektronische Version von ›Wer ist da, Freund oder Feind?‹« erklärt Argent, dann richtet er seine Aufmerksamkeit wieder auf Raven. »Und was sind wir?«
»Wir sind eine Luftambulanz von Yamatetsu«, erwidert sie.
»Sag mir, wenn sie dich per Funk anrufen«, regt Argent an.
Ich kann die Anlage immer noch nicht mit bloßem Auge erkennen, aber das Bild auf Argents Schirm wird immer größer und deutlicher. Das Ganze sieht für mich eher wie ein Gefängnis als eine Forschungsanlage aus. Vier große Gebäude und ein paar kleine Anbauten, alle von einer Mauer umgeben. Aus dieser Entfernung und diesem Blickwinkel läßt sich unmöglich schätzen, wie hoch sie ist. Wahrscheinlich läßt sich das später an Hand des Schatteneinfalls und so weiter berechnen, doch mein erster Eindruck ist der, daß die Mauer hoch und massiv ist. Und diese Dinger an den Ecken - architektonische Elemente oder Wachtürme? Was, zum Teufel, ist das überhaupt für eine Anlage?
Ich werfe einen Blick auf die Konsole vor mir. Lämp-chen und Anzeigen flackern in dem Bereich, den ich versuchsweise ECM und Sensoren zugeordnet habe. Wahrscheinlich die ersten Ausläufer des Oberflächenradars und der vorgezeichneten Flugschneisen, die Raven erwähnt hat. »Wie weit noch?« frage ich.
»Fünf Kilometer«, erwidert sie. »Ich entferne mich etwas vom Ufer, um sie nicht zu nervös zu machen.« Noch bevor sie ausgeredet hat, spüre ich, wie sich der Merlin in eine leichte Linkskurve legt.
Piep! Ein schriller Warnton heult durch das Cockpit, und eine Handvoll roter Lämpchen leuchtet auf meiner Konsole auf. »Was ist das?« frage ich.
»Impulsmoduliertes Radar, kurzwellig«, tönt Raven. Die Auskunft übermittelt genau null Information, aber ihr Tonfall, den der Lautsprecher ganz genau wiedergibt, ist angespannt. Eine Tatsache, die viel zuviel Information übermittelt. Wir sitzen im Drek.
»Transponder abschalten«, schnappt Argent.
»Erledigt«, antwortet Raven. »Bringt aber nichts, wir sind nah genug, und ihr Radar hat soviel Saft, daß sie längst eine Rißzeichnung von uns haben.« Die Kurve wird plötzlich enger, und die Motoren heulen auf, als Raven beschleunigt. Sie geht jetzt auch tiefer, wahrscheinlich um schneller zu beschleunigen oder unter dem Radar wegzutauchen (falls das in der heutigen Zeit noch möglich ist). Die Kamera verliert die Anlage, und Argents Schirm wird dunkel, aber im Moment interessiert mich das einen feuchten Drek.
Weitere Anzeigen leuchten auf meiner Konsole auf, darunter auch zwei kleine Signale mit den Beschriftungen Lck und Lnch. Ein rauhes Summen ertönt schmerzhaft laut, bis Argent auf einen Knopf drückt und es abstellt.
»Was?« rufe ich.
Argent antwortet. »Radarmeldung«, bellt er. »Rakete im Anflug.«
Die Motoren heulen lauter, und ich nehme an, Raven mobilisiert die Notfallreserven. Ich werde in den Gurt geworfen, als sie wieder in den Geradeausflug geht. Die
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