Der Einzelgänger
daß ich mit einem Suborbitalflugzeug der neuesten Generation von Milwaukee nach Seattle geflogen bin, das vermittels linearer Induktionsschienen gestartet wird, die ihre Elektrizität aus einem verdammten Atomreaktor beziehen, werden Sie meinen Widerwillen verstehen, mich auf Theorien zu verlassen. Meine Tarnung ist nur so lange wasserdicht und kugelsicher, wie eine ganz bestimmte Grundvoraussetzung zutrifft: daß niemand (außer mir natürlich) jemals von Milwaukee nach Seattle zieht.
Zugegeben, Seattle ist nicht das Paradies auf Erden, aber waren Sie mal in letzter Zeit in Milwaukee? Laut Handelskammer ›Eine großartige Stadt an einem großen See‹, aber in Wirklichkeit ist es nur ein großartiger Platz, um sich auf einer großen Giftmüllkippe den Tod zu holen. Aber Leute ziehen nun mal um. Drek, nehmen Sie nur Cat Ashburton, den kurvenreichen Rotschopf, mit dem ich mich im Kissaten getroffen habe. Sie ist ebenfalls von Milwaukee nach Seattle versetzt worden. Sicher, sie gehört zu Lone Star und ist daher ungefährlich, aber ihre Versetzung ist völlig unabhängig von meiner erfolgt, und das macht sie - zumindest in bezug auf meine Katastrophentheorie - zu einem von vielen Konzernlohnsklaven. Und wenn ein Konzernlohnsklave zur Westküste versetzt werden kann, warum dann nicht auch ein anderer? Und warum nicht einer, der mich kannte, während ich auf der Akademie war und bevor ich meine Tätigkeit als verdeckter Ermittler aufnahm?
Lassen wir meine hyperaktive Phantasie mal einen Augenblick daran knacken und nehmen wir einfach den schlimmstmöglichen Fall an: Vielleicht hat mich der Assistent des Elfs - der Bursche, dessentwegen ich so aus dem Häuschen bin - gekannt, als wir beide noch junge Punks in Milwaukee waren. Vielleicht sind wir zusammen zur Schule gegangen oder haben uns beim Bier in irgendeiner Studentenkneipe kennengelernt. Im besoffenen Kopf habe ich ihm dann erzählt, daß ich mir überlege, mich dem Star anzuschließen.
Nein, noch schlimmer. Ich habe ihn kennengelernt, als ich auf der Akademie war - wahrscheinlich eben-falls bei einem Liter Bier -, als ich fest entschlossen war, dem Star beizutreten und die Welt zu verändern. Danach trennen sich unsere beruflichen Wege. Ich werde verdeckter Ermittler, er taucht in die Konzernwelt ein und landet bei einem in Tir angesiedelten Konzern, für den er fragwürdige Deals mit Gangs abschließt. Was wird er sich wohl denken, wenn er den guten alten Ricky sieht, den Schwachkopf, der immer so gerne Cop werden wollte und jedem seinen Decodierring vom Lone Star Fan Club gezeigt hat und plötzlich so aussieht, als sei er ein hochrangiger Soldat der verdammten Cutters? Was wird er sich wohl denken? Richtig, genau das wird er sich denken. Und damit wird er verdammt recht haben und ich recht bald verdammt tot sein. Ach, ist Symmetrie nicht wunderbar?
Tja, das ist also der schlimmstmögliche Fall. Und der bestmögliche? Wir sind uns gestern auf der Straße begegnet und aus irgendeinem Grund sind die Gesichter haftengeblieben. Oder vielleicht war er einer von den Pinkeln in der Kaffeebohne, als ich meine Nummer mit Cat abgezogen habe. In diesem Fall bin ich sicher. Wenn er mein Gesicht schließlich unterbringen kann, wird seine Reaktion darauf eher lauten: »Hey, wie klein doch die Welt ist«, als: »Ein Verräter! Laßt die Hunde los!«
Und der wahrscheinlichste Fall? Liegt irgendwo dazwischen. Vielleicht kennen wir einander tatsächlich aus Milwaukee, sind uns aber erst begegnet, als meine Tarnung zumindest schon in Ansätzen existierte. In welchem Fall mein Risiko minimal, wenn nicht gar gleich Null ist.
Was mache ich jetzt also? ›Den Burschen umlegen‹, fällt mir als erstes ein, aber das birgt eigene Risiken und Konsequenzen. Nein, offenbar ist es das Vernünftigste, mir erst mal das Hirn zu zermartern, wer der Kerl war, ist oder was auch immer. Wenn ich ihm zuvorkomme und eher als er weiß, woher wir einander kennen, dann weiß ich, wohin der Zug fährt. Bis mir in dieser Hinsicht die Erleuchtung kommt, bleibt mir jedoch nichts anderes übrig, als mir Schauergeschichten auszumalen und mir vor Angst fast in die Hose zu machen.
Und das gelingt mir auch ausgezeichnet.
Ein paar Tage später arbeite ich immer noch daran, und langsam wird die Sache zu einem echten Schmerz im Arsch. Ich kann das Gesicht dieses Burschen immer noch nicht unterbringen, wie sehr ich mich auch abmühe. Ich habe all die kleinen psychologischen Kniffe angewandt, all das
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