Der Einzelgänger
geistige Judo, das einem angeblich hilft, sich zu erinnern. Versuch's mal chronologisch (Bist du ihm 2049 begegnet? Nicht? Wie steht es dann mit 2050?). Oder geographisch (Erinnere dich an die Gesichter all derjenigen, die in Milos Bar in Milwaukee herumgehangen haben. Nichts? Versuch's mit der Universität von Wisconsin, dem Haus der Studentenvereinigung...). Oder wie wäre es assoziativ? (Wen hast du je getroffen, der enge Beziehungen zu Elfen hatte?) All das führt nur zu Kopfschmerzen, Schlafstörungen und beunruhigenden Alpträumen, wenn es mir dann doch gelingt einzuschlafen. Nicht sehr produktiv, Chummer. Absolut nicht produktiv.
Also habe ich es wie ein guter kleiner Maulwurf, der ich ja auch bin, mit einer anderen Quelle versucht. Unter Einsatz aller Schliche, Lügen und Machenschaften, die man sich vorstellen kam, habe ich meine Fühler innerhalb der Cutters ausgestreckt, um herauszufinden, ob irgend jemand irgend etwas über meinen mysteriösen Mr. X weiß. Nichts zu machen, Chummer.
Ja, sicher, ich bekam einen Namen, aber der lautet auf Mr. Nemo. Ich glaube nicht, daß der Bursche, der mir dieses Juwel von einer Information zugesteckt hat, je herausfinden wird, warum ich aussah, als hätte ich auf eine Zitrone gebissen, als er mir den Namen nannte. Abgesehen von einem Namen wie ›P. S. Eudonym‹ kann ich mir keinen vorstellen, der so offensichtlich ein Alias ist wie ›Nemo‹. (Liest denn niemand mehr die Klassiker? ›Nemo‹ bedeutet ›niemand‹ auf Latein. Unser Gast hat sich als Mr. Niemand vorgestellt.) Also ist der Name in diesem Fall buchstäblich Schall und Rauch.
Nun, wir wollen fair bleiben, da war noch etwas anderes, aber das hat nur noch mehr Fragen aufgeworfen. Nach allem, was ein paar Soldaten gehört haben wollen - und die Götter wissen, wie und wo sie es gehört haben -, gehörte Mr. Nemo nicht zum gleichen Konzern wie die Elfen. Mehr konnten sie mir nicht sagen. Kein Hinweis, ob das bedeutet, daß er für einen anderen in Tir angesiedelten Konzern oder für einen Konzern sonstwo auf der Welt arbeitet... oder ob er überhaupt ständiger Mitarbeiter eines Konzerns ist. Drek, mit einem Pseudonym wie Nemo könnte er genausogut ein Shadowrunner sein. (Teufel, nein, er ist kein Runner. Das weiß ich, und ich weiß nicht, woher ich das weiß, und das beunruhigt mich noch mehr. Was für ein Alptraum.)
Jedenfalls habe ich meinen Bericht fertig und auf Chip diktiert, darunter auch alles, was ich über die Elfen-Delegation weiß, annehme und mutmaße. Ich habe Beschreibungen von allen dreien, doch zum x-ten-mal in den letzten paar Tagen wünsche ich mir, ich könnte einigermaßen zeichnen oder jemand hätte daran gedacht, mich mit anderen Talentsofts als gewalttätigen auszustatten.
Schön, mein Bericht ist also fertig, aber wie und wann liefere ich ihn ab? Blake läßt mich als Helfer/Handlanger/Leibwächter arbeiten, bis die Schwarte kracht. Ich habe ihm den Rücken freigehalten, Kurier und was weiß ich für ihn gespielt, sitze aber ansonsten im wesentlichen herum und warte darauf, daß er sich überlegt, was ich als nächstes erledigen soll. Seit zwei Tagen war ich nicht mehr in meiner Bude, sondern habe auf Sofas, Matratzen und Böden in dem einen oder anderen Unterschlupf der Cutters gepennt. Ich hatte eine und nur eine Gelegenheit, mich mit meinem Taschencomputer ins UOL einzuklinken. Natürlich habe ich sie genutzt, um die harmlose Botschaft aufzugeben, die »Ich brauche sofort ein Treffen. Meldet euch, habt ihr verstanden?« oder irgend so einen Drek bedeutet. Aber ich bin noch nicht dazu gekommen, nach einer Antwort zu suchen.
Das heißt, bis vor einer kleinen Weile. Vor etwa einer Stunde um kurz vor 0130 und mitten im schlimmsten nächtlichen Wolkenbruch, den Seattle in diesem Jahr erlebt hat, ist Blake aus seinem Privatquartier gekommen, während ich an der Wand lehnte und vor mich hin döste. Ich nehme an, ich muß seine Anwesenheit gespürt haben - vielleicht habe ich auch nur die Tür gehört. Jedenfalls bin ich aufgesprungen, als hätte ich Federn unter den Füßen, und rechnete schon mit einem Anschiß, weil ich während der Arbeit eingeschlafen war.
Jeder andere Boss hätte mir vermutlich wegen Vernachlässigung meiner Pflichten den Kopf abgerissen. Doch Blake tut niemals, was jeder andere Boss tun würde. Anstatt mich anzuschnauzen, kicherte er nur leise. »Nimm dir vierundzwanzig Stunden frei«, sagte er zu mir. Dann fügte er nach einem Blick auf seine Armbanduhr
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