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Der einzige Ausweg: Ein Barcelona-Krimi (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Der einzige Ausweg: Ein Barcelona-Krimi (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Titel: Der einzige Ausweg: Ein Barcelona-Krimi (suhrkamp taschenbuch) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonio Hill
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nur noch daran, für das Kind zu sorgen, es zu ernähren. Es zu beschützen.«
    »Das weiß ich«, sagte Leire. Ihre Stimme zitterte. »Ich werde für das Kind sorgen, es ernähren und beschützen. Aber ich werde es nicht anlügen. Ich werde mir nicht ein romantisches Märchen über seinen Vater ausdenken, auch nicht über unsere Beziehung. Vielleicht sind wir nicht die perfekte Familie, aber wir werden auch nicht so tun. Mein Sohn wird die Wahrheit wissen.«
    »Die Wahrheit!« Montserrat Martorell machte eine Handbewegung, als ärgerte es sie nur. »Ihr jungen Leute seid so besessen davon, dass es schon fast naiv ist. Glauben Sie, die Welt könnte funktionieren, wenn es nur Wahrheiten gäbe? Ich sage Ihnen eins, Frau Castro: Aufrichtigkeit ist heutzutage weit überschätzt. Und andere Werte gelten bedauerlicherweise nicht mehr viel, wie Treue, Gehorsam. So wenig wie einige Regeln, die lange Zeit mal besser, mal schlechter funktioniert haben. Nein, Frau Castro, nicht die Wahrheit hält die Welt im Lot. Bedenken Sie das.«
    »Ich glaube, die Welt, von der Sie sprechen, gibt es nicht mehr«, sagte Leire fast traurig.
    »Nicht?« Die Frau lächelte spöttisch. »Schauen Sie sich doch um. Glauben Sie, die Leute auf der Straße, die gewöhnlichen Menschen, kennen die ganze Wahrheit? Nein. Es gibt Dinge, zu denen Menschen wie Sie und ich keinen Zugang haben. So ist es, so ist es immer gewesen, egal wie sehr die Leute sich heute im Recht glauben, alles zu erfahren. Und wenn Sie es in einem anderen Maßstab betrachten, einem kleineren, werden Sie sehen, dass es auch für das Zuhause gilt, die Familie … Sobald Sie Ihr Kind bekommen, werden Sie merken, dass die Wahrheit nicht wichtig ist, wenn sie inKonflikt gerät mit anderen Dingen wie Schutz oder Sicherheit. Und ob Sie wollen oder nicht, werden Sie für das Kind entscheiden müssen. Dafür ist eine Mutter da: um ihm einen sicheren Weg zu weisen und alles zu tun, damit es nicht leidet.«
    Leire wurde wieder schwindlig, aber die letzten Worte erinnerten sie an etwas anderes.
    »Und Patricia? Haben Sie da auch entschieden? Haben das Mädchen Ruth aus dem Weg genommen, den Sie für sie vorgezeichnet hatten?«
    Frau Martorell hielt ihrem Blick stand, ohne zu blinzeln.
    »Ich habe ihr nur gesagt, dass sie meine Tochter in Ruhe lassen soll. Sie hat sie bedrängt. Mütter merken so etwas. Ich habe mit Ruth gesprochen, habe sie ein wenig unter Druck gesetzt, und am Ende hat sie mir alles erzählt. Sie war so verängstigt, so verwirrt … Sie wusste nicht, was sie wirklich fühlte, welche Neigungen sie hatte. Meine Aufgabe war es, sie zu beschützen.«
    »Sie vor Patricia zu schützen?« Sie konnte einen sarkastischen Unterton nicht verhindern.
    »Sie vor etwas zu schützen, was anzunehmen sie noch nicht bereit war. Und dessen sie sich nicht einmal ganz bewusst war.« Sie machte eine Pause, bevor sie weitersprach: »Man muss Mut haben, um anders zu sein in diesem Leben, Fräulein Castro. Ich wollte nur nicht, dass Ruth leidet. Also habe ich mit Patricia, bevor sie ging, ein Gespräch geführt, unter vier Augen.«
    Leire stellte sich die Frau vor. So imposant, wie sie noch im Alter war, musste sie als gekränkte Mutter Eindruck gemacht haben. Und Patricia war sich bestimmt verraten vorgekommen, schämte sich auch, so wie die Zeiten damals waren. Sie konnte es fast vor sich sehen, wie Patricia nach dieser bitteren Begegnung mit Frau Martorell allein am Steuer saß, auf dem Weg nach Hause …
    »Fühlten Sie sich danach denn nicht schlecht?« Sie mochte es nicht glauben, dass diese Frau womöglich nicht einmal die kleinsten Gewissensbisse hatte. »Wann haben Sie von dem Unfall erfahren?«
    Montserrat Martorell richtete sich auf und antwortete schneidend, mit eisiger Stimme:
    »Meine Gefühle gehen Sie nichts an, Frau Castro.«
    Nein, nicht, dachte Leire, und am liebsten hätte sie die auch gar nicht gekannt.
    »Das stimmt. Ich habe kein Recht, Sie danach zu fragen, sehr wohl aber, Ihnen etwas zu erzählen. Vielleicht wissen Sie es schon, vielleicht auch nicht, aber zumindest werden Sie sich ab jetzt nicht mehr hinter der Unwissenheit verschanzen können.«
    Und Leire erzählte von den geraubten Babys, von dem Heim in Tarragona und von Schwester Amparo; erzählte von der Möglichkeit, dass Ruths leibliche Mutter ihre Tochter nicht freiwillig hergegeben hatte, dass man sie täuschte, indem man ihr sagte, das Kind sei gestorben, oder dass man es ihr aus den Armen gerissen hatte. Dass die

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